Der Apfel-Mann Benoît B. Mandelbrots Autobiografie Er starb 2010, kurz bevor er sein letztes Buch Schönes Chaos. Mein wundersames Leben fertig stellen konnte. Dass die erst jetzt erschienene deutsche Ausgabe auf dem Klappentext mit einem Lob der auch schon verstorbenen Zeitung "Financial Times Deutschland" wirbt, hätte er bestimmt amüsant gefunden: "Dieser Mann ist eine Legende." Schließlich hatte Benoit B. Mandelbrot immer einen Sinn für seltsame Wendungen, Zusammenhänge zweiten Grades, Blumenkohl und Börsenkurse. Und für die Schönheit hochkomplizierter Gedankengänge. Oder den überraschenden Boom, den seine berühmteste Erfindung, das sogenannte Apfelmännchen, in den 1980er Jahren auf Postern und T-Shirts hatte. Kein anderer Mathematiker hat es je so weit gebracht. Er gründete eine völlig neue Disziplin, die "Fraktale Geometrie", nach ihm heißt die Mandelbrot-Menge, und das Internet ist voll von Programmen, mit denen sich jeder verrückte Landschaften aus Zahlen und Formeln basteln kann, die irgendwie natürlich aussehen - ohne auch nur ein Wort von der Theorie dahinter zu verstehen. Das bleibt auch so nach dem Lesen seiner Autobiografie, die seine Frau und seine Mitarbeiter nach Mandelbrots Tod fertigstellten, schließlich wollte der legendäre Mathematiker nicht seine Lehre erklären, sondern eher in einer Art Selbstanwendung vorführen, wie ein buntes Leben voller scheinbarer Irrwege wie nach einer geheimen Formel schließlich ein übergeordnetes Muster hervorbringt, wie Sinn aus dem Chaos entsteht. So wie ein Baum ziemlich frei und chaotisch wächst, der Wald am Ende aber doch ein erkennbares Ganzes ist. Der größte Teil des Buches gehört Mandelbrots Kindheit. Geboren in Polen, wuchs er in einer Familie von Mathematikern, Geschäftsleuten und Geistlichen auf, floh mit der Familie in die französische Provinz und begann sein Studium an einer Elitehochschule, aber als Hinterwäldler. Die moderne Mathematik seiner Zeit war ihm zu theoretisch, zu abstrakt. Er interessierte sich nicht für glatte Kurven und Regelmäßigkeiten. Sondern für das Raue, die Ecken und die Wirklichkeit. Er studiert Flugzeugbau und zählt Wörter in Texten, er arbeitet mit Jean Piaget über die Entwicklung von Kindern und er forscht an Problemen der Datenübertragung für die Computerindustrie. Schließlich geht er lieber als freier Forscher zu IBM, statt als Mathematik-Professor an eine Uni. Und allmählich deuten die Mitbringsel aus seinen vielen Wissenschaftsausflügen in eine gemeinsame Richtung: Die Welt ist nicht einfach, sondern kompliziert, aber die komplizierte Mathematik, mit der man sie beschreiben kann, ist ganz offensichtlich schön. Die gerade passend entstehende Computergrafik konnte die Formeln seiner fraktalen, gebrochenen Geometrie erstmals auch für den Laien, wenn schon nicht verständlich, so doch einsehbar machen. Und plötzlich war überall Chaos - und das Apfelmännchen, eine Darstellung fraktaler Verhältnisse, bei der jeder kleine Ausschnitt so aussieht, wie das ganze Bild. "Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt - und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.", sagt Benoit Mandelbrot - Als eine der letzten Disziplinen hat auch die Wirtschaftswissenschaft inzwischen eingesehen, dass mit ihren geraden, glatten Formeln etwas nicht stimmt. Mit Mandelbrot hätte man den letzten Crash zwar auch nicht vorhersagen können, aber doch beweisen, dass die Risiken erheblich höher waren als klassisch berechnet. Ganz schön für eine Blumenkohl-Idee. Aber auch ein bisschen verwirrend für den Biografie-Leser. Wir mäandern wie Mandelbrot durch sein Leben, ohne selbst sein Ziel zu sehen, verlieren uns manchmal in Details, und vergessen fast, dass hier nicht der Mathematiker über sich schreibt, sondern der Outlaw, der unabhängige Geist, der ernsthaft wie lebendig seine vielen Wege jenseits des Mainstreams geht. Auch ohne Erfolg wäre er ein Vorbild. Man muss am Lebensende ja nicht unbedingt auf eine T-Shirt-Karriere zurückblicken können. Aber schon auf eine Biografie. Wing
Benoît B. Mandelbrot: Schönes Chaos. Mein wundersames Leben. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter. Mit 76 Abbildungen und Grafiken. Piper, München 2013, 471 S., 24,99
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