ITALIEN
Eine ehrenwerte Familie
Ein Engländer erzählt die Geschichte der Mafia
Und das macht John Dickie so gut, dass es für einen Platz auf der Bestsellerliste reicht. Dabei hat Cosa Nostra keine Enthüllungen zu bieten und keine wilden Verschwörungstheorien, auf über 500 erzählt Dickie chronologisch präzise und im großen Bogen die Geschichte eines verbrecherischen Herrenclubs.
Der hat sich vor gut 150 Jahren in Sizilien gegründet (Theorien einer "Jahrhunderte alten Tradition" gehören zu einem der vielen Mafia-Mythen, zu denen etwa auch gehört, man töte keine Frauen und Kinder) und fiel in den 90er Jahren des 19. Jahunderts erstmals richtig auf. Allerdings verlief auch schon damals ein großer Mafia-Prozess im Sande - wie so viele nach ihm.
Mit Sinn fürs Detail und einer gewissen Lust am Absurden erzählt Dickie von den Geschäften der "Familien", die sich aus örtlichen Banditenbanden bildeten. Die ursprünglichen Bewacher und Verwalter der Citrusplantagen waren immer eine Mischung aus Räuberbande, Gaunergewerkschaft und ehrpusseligem Club: Dass man sich einen "Ehrenkodex" gab, führte dazu, dass man sich über weite Strecken dem Rest der Welt moralisch überlegen fühlte.
Die Geschichte der der "Cosa Nostra" ist wohl auch einmalig, weil das Verhältnis Sizilien-Italien von Anfang an seltsam war und die Festland-Regierung es immer wieder als angenehm empfand, die Mafia als lokale Verwaltungsmacht benutzen zu können. Dickie beschreibt die Geschichte daher nicht nur als Wirtschaftsgeschichte sondern auch als politische. Mit eigenen Gesetzen, Richtern, Gerichtsverfahren und Ansätzen interner Demokratie ist die Mafia wirklich ein Staat neben dem Staat. Als es vor 15 Jahren eng wurde, bot die Mafia dem Staat ernsthaft Verhandlungen darüber an, dass man bereit sei, seine Hoheit anzuerkennen.
Bis jetzt hat die Mafia all ihre Niederlagen in Siege verwandeln können. Selbst die gründliche Verfolgung durch den faschistischen Staat hat ihr nach 1944 genutzt. Sie half den Alliierten zwar nicht bei der Besetzung Siziliens (ein weiterer Mythos), aber sie konnte ihre Leute als "faschistisch Verfolgte" rasch wieder in Amt und Würden bringen. In den 70ern war es vor allem das Heroin, dass die Bruderschaft wieder ins Geschäft brachte. Die schweren Rückschläge der 90er Jahre - vor allem die Ermittlungen des Richters Falcone - konnten inzwischen durch einige mafiafreundliche Gesetze der Berlusconi-Regierung gemildert werden. John Dickie hat für sein Buch viele Quellen benutzt (die im Anhang genannt werden) und ist dennoch zurückhaltend mit Verschwörungstheorien. Die engen Kontakte des mehrmaligen Ex-Regierungschefs Giulio Andreotti sind für ihn untrittig, aber kein Beweis für direkte Abhängigkeiten. Der Skandal um die Loge "Propaganda 2" ist mit wenigen Zeilen abgetan. Und auch Berlusconis seltsamer Aufstieg ist für ihn kein Grund für Spekulationen. Dass das italienische PArteiensysrtem in den 90ern zusammenbricht, genauzu dem Zeitpunkt, als auch die Mafia nach den Falcone-Morden an die Wand gedrückt wurde, ist Dickie keine Spekulation wert, bestenfalls ein paar süffisante Bemerkungen.l
Das ist Schwäche und Stärke des Buches zugleich: Es erzählt, was sich durch Akten belegen lässt. Andererseits weiß auch Dickie, dass Geschichte mehr ist als das, was sich durch Akten belegen läßt. Dickie trägt dem Rechnung, indem er Folgen beschreibt. Wenn der Staat Falcone nach dem ersten Prozess fallen lässt und kurz darauf die Attentate beschlossen werden, sieht auch Dickie, was hier zusammengehört. Aber er schreibt nur: Die Haltung der Regierung bestimmt die Haltung der "Ehrenwerten Männer". Wo der Staat sich zurück zieht, fühlen diese sich ermutigt.
Das Buch ist redaktionell auf dem Stand von 2003. Die Verhaftung von Bernardo "Der Traktor" Provenzano, dem "Boss der Bosse", kommt nicht mehr vor. Dafür schildert Dickie ausführlich die Karriere und die außerordentliche Brutalität des letzten Mafia-Bosses aus Corleone, jenem Dörfchen, dessen Mafia-Clan sich seit den 70ern in der Hiercharchie durch Hunderte von Morden und völlige Skrupellosigkeit nach oben brachte. "Das Problem liegt bei den Verrätern", sagte in den 90ern der Provenzano-Vorgänger Totò Riina, "deshalb müssen wir sie umbringen und ebenso ihre Angehörigen bis zum zwanzigsten Grad, und dabei fangen wir mit den Kindern über sechs Jahren an."
Erich Sauer
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