Kabbala Rabbi Reloaded »Das Alphabet des Rabbi Löw« ist ein seltsames Buch
Das fängt damit an, dass es hinten anfängt, buchstäblich. Seite 286 kommt gleich nach dem Aufschlagen und steht auf dem Kopf. Und das hört nicht damit auf, dass es Benjamin Stein vor 20 Jahren schon einmal geschrieben hat. Damals hieß es Das Alphabet des Juda Liva und handelte auch schon von der einen, berühmten Geschichte um den Golem von Prag, und von vielen anderen Geschichten, die ein seltsamer Mensch einem jungen Paar im heutigen Berlin als Abendunterhaltung aufdrängt. Allerdings kommt schon auf der ersten (letzten) Seite ein Telegramm an, mit dem er ein vereinbartes Treffen absagt: "bin verhindert, da tot." Ausführlich überarbeitete Stein seinen ersten Roman, strich sich die Mätzchen des Debütanten heraus, kürzte, konzentrierte und schliff, bis seine Sätze ganz mühelos eine moderne phantastische Atmosphäre erzeugen, als säßen E.T.A. Hoffmann und Gustav Meyrink beim Bier in Kreuzberg. Und spendierte seinem durch das ganze letzte Jahrhundert vagabundierenden Werk auf seinem Blog turmsegler.net eine statistische Aufbereitung, die penibel die verwickelten Familiengeschichten aufdröselt. Zunächst aber zieht das schiere Abenteuer uns hinein: Der Ich-Erzähler macht sich, angestachelt von seiner Freundin daran, aus den Notizen seines verstorbenen Märchenonkels eine Story zu machen. Die führt ihn bald von Berlin nach Budapest und noch viel weiter und tief in die Vergangenheit. Plötzlich geht es um einen geheimen Abkömmling einer Familie von jüdischen Engeln, den Seraphen, die einen ganz ungewohnt weiblichen Ton anschlagen. Drei Generationen lang haben sie nur eine Liebesnacht, kriegen eine Tochter und verfolgen ihren Liebhaber mit einem Fluch. Mit dem letzten war unser toter Erzähler befreundet, und das ist wahrlich nur der Anfang einer ausschweifenden Phantasmagorie. Man muss sich gar nicht für den Golem-Ansatz interessieren, dass nämlich Buchstaben, also Geschichten, Macht über Leben und Tod haben. Aber man darf auch keine Angst haben vor dem Strudel der heute weitgehend unbekannten jüdischen Mystik. Wing
Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Verbrecher Verlag, Berlin 2014, 286 S., 24,00
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