ZUKUNFT

Things to Come

Ray Kurzweil unterhält sich über die Computerzukunft

Der Mann ist interessanter als das Buch, und das Buch ist am besten, wo es den Titel verfehlt: Homo Sapiens. Leben im 21. Jahrhundert - Was bleibt vom Menschen? Von Ray Kurzweil.
Der Mann hat den Flachbettscanner erfunden, die Texterkennung, die Spracherkennung, ein paar Dutzend andere Computerbauteile und -Anwendungen - und jedesmal, wenn seine Entwicklungsfirma einen Durchbruch fertig hatte, verkaufte er sie und finanzierte damit ein neues Hobby. Etwa Gedicht-Generatoren programmieren. Oder erstaunlich genaue Voraussagen über Wachstum und Veränderung rund um die Computerindustrie in naher Zukunft machen. Incl. Internet und Aktien-Boom.
Das war Ende der 80er. Dann aber beschloß Ray Kurzweil auch noch Philosoph zu werden. Und jetzt geht alles durcheinander: der rasant sich beschleunigende Trend zu schnelleren Chips wird als kosmisches Gesetz gelesen, KI-Debatten über Sitz und Stimme des Bewußtseins führen zur Annahme rein softwaregestützter Intelligenz, die Nanotechnologie (Maschinenbau in Dimensionen kleiner als eine Körperzelle) wird zur Basis-Anwendung des nächsten Jahrhunderts, Quanten-Computer, evolutionäre Schachprogramme, virtuelle Environments für jeden (nicht ich bin ein Avatar im Chat-Room auf meinem Monitor, sondern die Welt loggt sich direkt in meinen Netzhaut-Emulator ein) ...
Der Mix aus Human Touch (wie ich einmal eine Computerkomposition auf dem Klavier spielte und für Johann Sebastian Bach gehalten wurde), Theorie-für-alles (jede "organisierende" Entwicklung beschleunigt die Zeit, jede "unordnende" verlangsamt sie) und lustigen Anekdoten (ein Diagnose-Computer für Hirnhautentzündung hat menschliche Ärzte geschlagen, noch bevor Kasparow das erste Schach-Match gegen Deep Blue verlor) macht Spaß. Aber mehr, als einer überzeugenden Voraussage für die nächsten 100 Jahre gut tut.
Um den Titel zu rechtfertigen (im Original noch überkandidelter The Age of Spiritual Machines) muß Ray prophezeien (ab 2049 kommen organische Hirnzellen aus der Mode), um das wenigstens plausibel zu machen, muß er sehr viel verstreute gegenwärtige Forschungen erläutern (wow: die erste Nano-Maschine war eine Rock-Gitarre, auf der Bakterien spielen könnten) - aber um beides zu verbinden, braucht es eine eher spinnert anmutende Weltformel. Und die uramerikanische Überzeugung, daß sich die Technik schon die Welt nach ihren Bedürfnissen einrichten wird. Statt etwa nach denen des Kapitals, gesellschaftlicher Bewegungen, oder visonärer Einzelner. Immerhin hat Ray Kurzweil in seiner Zeittafel des Universums (vor 15 Milliarden Jahren: Start - vor 5 Milliarden: Geburt der Erde - 427 v. Chr.: Geburt Platons - 1959: der Kopierer kommt auf den Markt ...) auch sein eigenes Buch als Markstein verzeichnet. Kurz danach werden Bücher aber ganz abgeschafft.
WING
Ray Kurzweil: Homo Sapiens. Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen? Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 509 S., 49.80 DM