VIRTUELLER KRIEG

Nächste Ampel links

Wer denkende Raketen hat, braucht keine mitdenkenden Parlamente.

Vor 10 Jahren, im Golf-Krieg, hatten die Raketen der US-Luftwaffe und -Navy schicke Kameras vorne drauf, mit denen man genau verfolgen konnte, wie sich das Projektil präszise in einen Bunker bohrt oder eine Radaranlage platt macht. Journalisten berichteten, es sei faszinierend gewesen, zu beobachten, wie die Cruise Missiles in Bagdad sozusagen "an der nächsten Ampel links" abbogen.
Das wirkte enorm unblutig und minimierte die alliierten Verluste: nur 78 Soldaten der Golf-Armee starben während des Einsatzes. Seit dem gibt es das Wort "Video-Krieg" oder "virtueller Krieg". Es beschreibt etwas, das gar nicht wirklich stattzufinden scheint und nicht bedrohlicher wirkt als ein Computerspiel.
Michael Ignatieff, BBC-Journalist und Kolumnist, hat ein bißchen weiter gedacht und anhand des Kosovo-Krieges analysiert, wie der Krieg sich verändert. Zum Beispiel, sagt Ignatieff, seien die neuen Waffen der Luftwaffe auch Ausdruck des Unwillens, das Leben der eigenen Soldaten aufs Spiel zu setzen. Das ist zwar löblich, hat aber zur Folge, dass der Gegner genau weiß, wie weit er gehen kann; Milosevic wußte, dass die NATO aus genau diesem Grund keine Bodentruppen schicken würde. Also richtete er sich auf das unangenehme und letztlich mäßig effektive Bombardement aus der Luft ein, während seine Armee am Boden die Albaner aus dem Kosovo vertrieb.
Diese Vertreibung zu verhindern war das erklärte Ziel der NATO, aber sie wählte militärische Mittel, die genau dieses Ziel nicht erreichen konnten. Dies wiederum deshalb, weil der Krieg gegen Serbien gar kein Krieg war. Er wurde nicht erklärt, die Parlamente wurden nicht gefragt, Meinungsumfragen ersetzten die Arbeit der Legislative. Ein solcher Krieg ist verloren, wenn die Meinung im Volk umkippt. Also darf es keine Toten geben.
Das alles ist "virtueller Krieg", sagt Ignatieff. Und es wird davon immer mehr geben; je risikoloser das Bombardieren fremder Völker erscheint, desto bereitwilliger wird man es anordnen.
Ignatieff ist kein Pazifist, und er findet den Kosovo-Krieg richtig. In seinem Buch Virtueller Krieg sind auch Reportagen zu finden, Ignatieff sprach mit dem US-Diplomaten Richard Holbrook, dem Oberkommandierenden des Krieges, Wesley Clark, er war in Flüchtlingslagern und in Serbien, wo er seine Kindheit verbrachte. Daraus ergibt sich kein klares, aber ein sauber erarbeitetes Bild des Krieges. Ignatieffs Analyse ist eben nicht nur eine theoretische, sondern eine, der man anmerkt, dass sie auch vor Ort stattfand. Man mag ihr nicht in allen Punkten zustimmen, aber sie enthält die meisten Punkte, die beim Kosovo-Krieg problematisch waren: die völkerrechtliche Zwielichtigkeit des NATO-Einsatzes, die Beliebigkeit der Mittel (wäre auch nur ein Pilot gestorben, so Ignatieff, hätte die NATO ihre "vornehme Zurückhaltung" sofort aufgegeben) und die fehlende Kontrolle durch die eigentlich verantwortlichen Gremien, von den nationalen Parlamenten bis zur UNO.
Ignatieff ist offensichtlich ein freundlicher und naiver Mensch. In einem Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt er: "Als Deutschland seine Soldaten in den Kampf schickte und das verfassungsmäßige Verbot der Stationierung seiner Truppen außerhalb der eigenen Grenzen übertrat, wurde es letztendlich zu einer europäischen Nation wie alle anderen." Er meint das nicht ironisch. Gerade deshalb kann man daraus was lernen.
Erich Sauer
Michael Ignatieff: Virtueller Krieg. Aus dem Englischen von Angelika Hildebrandt. Rotbuch, Hamburg 2001, 231 S., 34,- DM