GESUNDHEIT
UNSER DOKTOR IST DER BESTE
Sind Sie krank? Und wenn nein: warum nicht?
So viel vorweg: niemand ist gesund. Seit einiger Zeit jedenfalls lautet die Definition von "Gesundheit": die Abwesenheit jeder (theoretisch therapierbaren) körperlichen Beeinträchtigung. Jetzt sind wir alle krank. Das freut die Medizin.
Neuerdings sind wir nicht nur alle krank, sondern auch selbst schuld: wir essen zu viel (oder zu wenig), wir rauchen, saufen, frönen gesundheitsgefährdenden Sexpraktiken, geh'n nicht of genug in die Fitness-Bude - selbst schuld, wenn uns das Zipperlein auf die eine oder andere Art erwischt.
Wenn wir krank werden, liegt das keinesfalls an dem Dreck, den die Industrie zu Wasser, Luft und zu Lande abläßt; am zunehmenden Autoverkehr; an der Angst, den Job zu verlieren oder dem Scheiß, den die Fleisch-Industrie ihren Viechern zu fressen gibt. (Noch Ende April, 15 Jahre nach Tschernobyl, warnte die bayerische Landesregierung vor dem Verzehr von Wildpilzen oder Wildbret, beide sind immer noch radiokativ schwer belastet. Aber wir sind ja selbst schuld, wenn wir nicht auf die Regierung hören.)
Mach mich krank!
Vor mehr als 10 Jahren gab's eine sensationelle Entdeckung: wer ein Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür hatte, war nicht, wie bisher angenommen, Opfer von Streß, fettreicher Ernährung oder zuviel Kaffeegenuß, sondern er litt unter einem Bakterium namens helicobacter pylori. Das war insofern eine Sensation, als bis dahin niemand vermutet hätte, im Magen könnten Bakterien überleben; helicobacter konnte. Seitdem wird der sogenannte peptische Ulkus, das Magengeschwür als Folge schwerer Magenübersäuerung, lediglich mit Antibiotika behandelt. Die Therapie ist einfach, preiswert und effektiv. Alles ist gut.
Oder doch nicht?
Seltsam ist: 80% aller Helicobacter-Infizierten erkranken nie in ihrem Leben an einem Magengeschwür. Und 10% aller Magengeschwür-Patienten sind nicht mit Helicobacter infiziert. Das wundert zum Beispiel auch den Dr. med. Harald Heiskel, der im Band 34 des Jahrbuch für kritische Medizin darüber nachdenkt, was aus den psychosozialen Ursachen geworden ist, die früher eine große Rolle spielten. Kann es sein, dass Magengeschwüre doch eher die Folge von Streß sind und Helicobacter den Ausbruch der Krankheit einfach vorantreibt?
Was ist überhaupt aus der Medizin geworden, die uns immer mehr einredet, unsere Krankheitsanfälligkeit sei Folge unseres Lebenswandels oder unserer genetischen Ausstattung - und keinesfalls etwa das Ergebnis der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben? Darüber schreibt Hagen Kühn (im gleichen Band des Jahrbuches) und nennt als Beispiel - im grausamen Akademiker-Deutsch, aber dennoch richtig - den Straßenverkehr: wer da verletzt wird, ist immer nur Opfer individueller Fehler, niemals Opfer des globalen Verkehrskonzeptes.
Das ist die Kehrseite der Medaille, nach der wir alle unser eigenes Glück suchen sollen: wer sich Edelsteine auf den Bauch legen läßt, in Richtung Osten "Ooohmmmm!" brummt, um sich besser zu fühlen, oder einfach nur das Rauchen aufgibt, hat eine bestimmte Idee von sich selbst und seinem Glück. Nämlich dass er oder sie es selbst in der Hand hat, wie gesund oder krank man wird. Es könnte sein, dass diese Idee ziemlich Bockmist ist.
Ach, mein Herz!
Ebenfalls im "Jahrbuch" wird die Rolle der Medien betont. Es vergeht ja keine "SAT 1"-Nachrichtensendung ohne "sensationelle Entdeckung" im Bereich der Medizin, wobei diese Entdeckung komischerweise niemals darin besteht, gesellschaftliche Ursachen für Erkrankungen zu entdecken. Immer ist es ein Wundermittel, das wie durch Zauberei den Krebs verschwinden oder das Herz gesunden läßt.
Auch DER SPIEGEL spielt schon seit Jahren mit seinen Tartaren-Meldungen aus dem Gesundheitsbereich eine miese Rolle. Vor Jahren entdeckte ein dort Redakteur recht exklusiv die angebliche Heilungsmöglichkeit vom Morbus Parkinson (heute weiß man, dass das Quatsch war). Und wenn man beim SPIEGEL schon Helicobacter verpennt hatte, so wollte man doch wenigstens jenes Bakterium lautstark denunzieren, das angeblich am Herzinfarkte schuld ist: Titel und 9 Heftseiten widmete die Redaktion den Clamydien.
Warum und wie sowas passiert, beschreibt Reiner Rugulies von der Uni in Berkely: "Man sollte nicht den Fehler begehen und die Berichterstattung in den populären Medien als unwichtigt, da von wissenschaftlich unbeschlagenen Journalisten verfaßt, abtun. Journalisten haben, wie wohl kaum eine andere Berufsgruppe, ein Gespür dafür, welche Ansichten unter den gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen opportun sind."
Psycho-Mythen
Den dabei verbreiteten Psycho-Mythen hat sich der Journalist Rolf Degen in seinem Lexikon der Psycho-Irrtümer gewidmet. Wer ein gutes Selbstbild besitzt, ist erfolgreicher? Stress vermindert die Abwehrkräfte? Das Hirn arbeitet nur mit 10% seines Leistungspotentials? - Alles Unfug, sagt Degen, es gibt keine wissenschaftlichen Grundlagen für diese Aussagen. Und wo es welche gibt, beweisen sie eher das Gegenteil dessen, was die Psycho-Szene und die Newage-Gemeinde behauptet. Meditation zum Beispiel hat keinen anderen physiologisch meßbaren Effekt als leichtes Dösen: wer entspannt ein heißes Bad nimmt, tut sich selbst den gleichen Gefallen wie einer, der die Beine verknotet und "nach innen" horcht. Überhaupt: die Idee, dass unser phsychisches Wohlbefinden was mit unserer organischen Gesundheit zu tun hat, ist schwer zu beweisen. Und die Psyche selbst ist ein widerstandsfähiges Ding, das sich Manipulationen hartnäckig widersetzt. Wer zum Therapeuten geht, tut was fürs Bruttosozialprodukt, aber nichts für seine Seele. Es gibt keine seriöse Studie, die einen wie auch immer meßbaren Erfolg von Psycho-Therapien beweisen könnte (und das ist das beruhigende: das gilt laut Degen für alle, jede Therapie ist auf ihre Weise gleichermaßen nutzlos; einzig Selbsthilfegruppen können einen - minimalen - meßbaren Erfolg nachweisen).
Die "verschüttete Erinnerung" ist ebenso ein Mythos wie die "Multiple Persönlichkeit". Dass (auch sexuelle) Gewalt in der Kindheit neue Gewalttäter hervorbringt, ist ebenso unbewiesen wie die Behauptung, Menschen mit einem realistischen Bild von sich selbst seien glücklicher. Das Gegenteil ist wahr: Depressive Menschen zeichnen sich durch ein ausgesprochen realistisches Selbstbild aus, die "Normalen" überschätzen ihre Fähigkeiten ständig, was eben ein Zeichen geistiger Gesundheit ist: nur wenn wir unsere Schwächen und Macken gnädig übersehen, können wir mit uns und dem Rest der Welt halbwegs klarkommen.
Es sei nicht verschwiegen, dass Degen in seinem "Lexikon" auch ziemlich viel heiße Luft abläßt. Er erklärt die Psyche für derart resistent, dass beinahe sämtliche äußeren Einflüsse an uns abzuprallen scheinen: Milieu, Elternhaus, Fernsehen, Werbung und politische Propaganda haben keinen meßbaren Einfluß auf unsere Persönlichkeit, sagt er. Sollte das so sein, könnte Degen mit den neuen Genetik-Gurus einen saufen gehen: wie gesund wir sind und was wir im Kopf haben, liegt allein an unserer genetischen Ausstattung.
Das ist krank.
Erich Sauer
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