KONGO

DAS WEISSE HERZ DER FINSTERNIS

Adam Hochschild erzählt die vergessene Geschichte des Völkermordes im Kongo

Ende des 19. Jahrhunderts wurmte es den belgischen König Leopold II. gewaltig, dass er und sein kleines Land keine Kolonien besaßen. Und zu allem Übel auch kein Militär und keine Flotte, die diesen Mißstand hätten beseitigen können. Nachdem der König jahrelang vorsichtig nachgefragt hatte, ob nicht irgendwo eine kleine Kolonie käuflich zu erwerben wäre - von den Fidschis bis nach Argentinien machte er Kaufangebote - kam ihm jene Idee, die schließlich dazu führte, dass der Kongo zum Privatbesitz des belgischen Königs wurde. Und Schauplatz einer Metzelei und Ausbeutung, die Millionen von Menschen nicht überlebten.
Gleichzeitig entstand die erste mächtige Menschenrechtsbewegung gegen den Völkermord im Kongo, für die sich unter anderen Mark Twain und der "Sherlock Holmes"-Erfinder Arthur Conan Doyle engagierten. Trotzdem ist diese Geschichte aus dem Zeitalter des späten Imperialismus weitgehend vergessen. Der us-amerikanische Journalistik-Dozent Adam Hochschild stieß eher zufällig, durch eine Fußnote, auf den Genozid um die Jahrhundertwende. Nach langjährigen Recherchen hat er die Geschichte in dem Buch Schatten über dem Kongo zusammengefaßt unter dem Original-Titel: "King Leopold's Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa".

Die armen Neger

Leopold II. berief im September 1876 eine internationale Konferenz ein, einen "geografischen Kongreß". Afrikaforscher, Militärs, Ärzte und Missionare - alle kamen zusammen, um den armen Negern endlich und endgültig die Segnungen der westlichen Zivilisation zu verpassen. Man wälzte Landkarten, plante Hilfs-Stationen im Lande, wo Handwerker, Lehrer und Ärzte den Einheimischen mit Rat und Tat zur Seite stehen würden. Und auch der "arabische Sklavenhandel" sollte unnachgiebig bekämpft werden. Die Welt jubelte über ihre eigene Güte.
Zu diesem Zwecke gründeten die deutschen, englischen, französischen, russischen und belgischen Teilnehmer eine Gesellschaft. Scheinbar widerwillig ließ sich Leopold II. zu deren Vorsitzenden wählen. Fortan war der Kongo in seinem Privatbesitz, Leopold lieh sich sogar - zinsfrei, versteht sich - 32 Millionen Franc beim belgischen Staat, damit er den Kongo mit einer ordentlichen Infrastruktur versehen könne. Nach Leopolds Tod sollte der Kongo dafür in Belgiens Besitz übergehen.
Tatsächlich nutzt Leopold das Geld vorwiegend, um Rohstoffe aus dem Land zu pressen, anfangs Gewürze und Früchte, später vor allem Kautschuk. Auf Lehrer und Handwerker, Schulen und Krankenhäuser warteten jene Bewohner, die plötzlich in einem Land namens "Kongo" lebten, vergeblich.

Mord macht Geld

Während Leopold sich daran machte, ein großes Stück Afrika zu seinem Privatbesitz zu erklären, stieg plötzlich die Nachfrage nach Kautschuk, dem Rohstoff für Gummi. Der Kongo war voll von Kautschuk. Also zogen Leopolds Schergen in die Dörfer, zwangen die Männer, in den Dschungel zu gehen und Kautschuk zu zapfen. Sicherheitshalber nahmen sie die Frauen als Geisel. Wer mit genug Kautschuk zurückkam, durfte seine Frau zurückkaufen - so sie nach den Mißhandlungen und Vergewaltigungen noch lebte. Wer mit zu wenig Kautschuk zurückkam, wurde entweder ausgepeitscht - oder man nahm seine Kinder und hackte ihnen eine Hand oder einen Fuß ab (manchmal beides), um die "Motivation" zu steigern.
Der mörderische Zynismus der Belgier unterschied sich nicht wesentlich von dem der Franzosen oder Deutschen in Afrika. Aber Leopolds Kongo war die einzige Kolonie, von der behauptet wurde, dass hier nur Gutes für die einheimische Bevölkerung getan werde. Die Massaker der Belgier drangen jahrelang nicht an die Öffentlichkeit.

Ein Buchhalter merkt was

Der Engländer Edmund Dene Morel arbeite als Buchhalter. Auf den Docks in Antwerpen hatte er ein- und ausgehende Waren zu überprüfen. Und stellte fest, dass zwar aus dem Kongo jede Menge Gewürze, Kautschuk und andere Rohstoffe kamen, Schiffssendungen in den Kongo hingegen enthielten bloß Gewehre und Uniformen. Nach und nach brachte Morel die Wahrheit ans Licht. Bis zum Ende von Leopolds Kongo bestand Morels Leben nur noch aus dem Kampf gegen die weißen Mörder. Eine weltweite Menschenrechtsbewegung entstand, die Belgien unter Druck setzte, den Zuständen im Kongo ein Ende zu bereiten. Leopold, der sein Raub-Geld aus dem Kongo für Bauwerke und Mätressen verpraßte, war stocksauer über Morel und dessen Kampagne. Immer wieder versuchte er, mit Bestechungsangeboten die Bewegung zu spalten.

Der kleine Goebbels

Als Propagandist, Lügner, Manipulator und PR-Chef war Leopold, das muß man ihm lassen, ein Genie. Keine Sekunde dachte er daran, die Verhältnisse im Kongo wirklich zu ändern. Aber er hinterließ eine umfangreiche Korrespondenz, die beweist, wie eifrig er im Bestechen, Lügen und Antichambrieren war. Wo immer sich ein Politiker, Journalist, Lobbyist schmieren ließ, waren Leopold und seine Helfer zur Stelle. Europa und die USA überzogen sie mit einem Netz von Gegenpropaganda. Durch ein kleines Malheur ist vor allem dokumentiert, wie gut Leopold die deutsche Presse schmieren ließ, die 1904 noch auf die Verbrechen im Kongo aufmerksam machte, 1906 bereits aber Lobeshymnen auf den gütigen König schrieb - der dafür einem sehr elastischen Herausgeber 1907 prompt einen Orden umhängte.
Gegen Ende war Leopold etwas zu schlau. Er setzte eine dreiköpfige Untersuchungskommission ein, die vor Ort recherchieren sollte. Alle drei Mitglieder hatten vom Kongo keine Ahnung, sprachen keine afrikanische Sprache und nicht einmal Englisch. Trotzdem förderte die Arbeit der ahnungslosen Drei Schreckliches zu Tage, Zeugenaussagen von Massakern und vernichteten Dörfern. Erschüttert von den Fakten, verfaßte die Kommission einen für Leopold katastrophal ehrlichen Bericht. Ein letztes Mal lief der belgische Lügner zur Höchstform auf: Wenige Tage, bevor die Kommission ihren 50seitigen Bericht (auf Französisch) vorstellte, kursierte in der englischen Presse eine kurze englische Zusammenfassung des Berichts, vertrieben vom "Westfarikanischen Missionsverband". Diese Zusammenfassung - laut der alles halb so schlimm war - wurde in der englischen und amerikanischen Presse zitiert. Es dauerte ein paar Tage, bis Journalisten dann schließlich das französische Original lesen konnten und feststellten, dass dort alles ganz anders stand. Jetzt fragte man sich auch, was eigentlich der "Westfarikanischen Missionsverband" sei - außer einem leeren Büro fand man nichts vor. So schlau das eingefädelt war - Leopold verfing sich langsam in seinen Intrigen und Täuschungen. Kurz vor Beginn des I. Weltkriegs verkaufte Leopold den Kongo an Belgien. Die Menschenrechtskampagne wurde eingestellt, und nach dem Überfall durch Deutschland 1914 war Belgien weltweit Objekt des Mitleides. Niemand fragte mehr danach, was in Afrika geschah, wo die europäischen Mächte die Kolonien neu aufteilten.

Lauter Irre

Hochschilds Buch bringt nicht nur eine vergessene Geschichte zurück. Es berichtet auch von dem (Un)Geist, mit dem die Europäer in Afrika einfielen. Der legendäre Afrika-Forscher Stanley war ein paranoider Irrer, die belgischen Offiziere waren eiskalte Schlächter, denen Joseph Conrad in seiner Erzählung Herz der Finsternis ein "Denkmal" gesetzt hat. Nach Hochschilds Buch muß man Conrads Geschichte über das Grauen nicht mehr als Reise in die Psyche lesen, sondern als Augenzeugenbericht. Die Verbrechen des Herrn Kurtz sind vielfältig dokumentiert, wenn auch unter anderen Namen. So hatte ein Belgischer Statthalter die Angewohnheit, den Innenhof seiner Residenz von weiblichen Gefangenen fegen zu lassen. Fand er danach auch nur ein Laubblatt im Hof, ließ er pauschal 12 Frauen köpfen.
Die Kolonialtruppen mußten über den Verbrauch von Gewehrkugeln Rechenschaft ablegen: für jede verschossene Kugel wurde daher eine abgehackte Hand präsentiert, als "Arbeitsnachweis". Als die weißen Offiziere meckerten, diese Hände seien wohl vorwiegend Frauen und Kindern abgehackt worden, brachten die Truppen stattdessen abgeschnittene Genitalien.
Als Leopold eine Zeitungskarikatur sah, auf der seine Truppen Schwarzen die Hände abhackten, soll er den Kopf geschüttelt und gesagt haben: So etwas würde ich nie anordnen, ich brauche ihre Hände doch zum Arbeiten!
Leopold starb als schwerreicher Mann 1909. Dem Kongo ging es danach nicht besser. In den 50er Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, sorgten die USA, Frankreich und Belgien dafür, dass der neue Staatsführer ein ehemaliger Offizier der Belgischen Mördertruppen war: Mobutu hatte 30 Jahre lang Zeit, sein Zaire (wie der Kongo dann hieß) mit Hilfe des Westens auszuplündern. Er starb als einer der reichsten Männer der Welt. Heute ist der Kongo ein von Bürgerkriegen zerrissenes Land - in dem sich die USA, Frankreich und Belgien um die Ausbeutung der Diamantminen kloppen. Hochschilds Buch liefert den Beweis, wie sehr das jetzige Elend aus den Verbrechen des vorigen Jahrhunderts hervorgeht.

Erich Sauer
Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschenrechtsverbrechen Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Robert Schubert. Klett-Cotta, Stuttgart 2000 , 494 S., mit zahlr. Abb., 50,- DM