GESUNDHEIT
Die neuen Leiden
Der Arzt und Autor Werner Bartens befaßt sich mit »Krankheit als Kulturtechnik«
In der DDR waren die Kinder einst rank und schlank. Allergien kamen kaum vor. Nur 10 Jahre nach dem Ost-Anschluß leiden die Ossis unter den gleichen Krankheiten wie die Wessis - Übergewicht, Allergien, Hämörrhoiden.
Das kann nicht nur daran liegen, dass McChickens jetzt auch in Leipzig zu haben sind. "Die Leiden, die zu einer bestimmten Zeit Konjunktur haben, sind symptomatisch für die jeweilige Epoche und ihre Befindlichkeiten" schreibt Werner Bartens in seinem Buch Was hab ich bloß?, einem recht sarkastisch gehaltenen Nachschlagewerk über die coolsten Leiden - und natürlich auch solche, die längst out sind. An die "Eisenbahnkrankheit" kann man sich heute ebensowenig erinnern wie an die "Bleichsucht" oder "Schwindsucht", einer seinerzeit gängigen Kreislaufschwäche junger Mädchen. In jüngerer Zeit ist uns die "multiple Persönlichkeit" ziemlich abhanden gekommen, die in den 80ern und 90ern ein echter Renner war. Dafür stehen Eltern jetzt Schlange bei eifrigen Heilern, die bei Kleinkindern "KiSS" behandeln, die "Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung".
Seit Viagra ist Impotenz ebenso eine Krankheit wie die Schwangerschaft es schon seit langem ist. Elektrosmog ist schwer im Kommen, wohingegen das gute alte Magengeschwür sich auf dem Rückzug befindet, Darmpilze ziehen immer noch an, und Stress ist ziemlich unpopulär, einfach deshalb, weil ihn alle haben. Zeiten haben ihre Krankheiten (und umgekehrt), und dagegen kann man gar nichts machen, sagt Bartens. Es geht auch gar nicht darum, dass die Leiden nur vorgetäuscht seien (in den Wartezimmern sitzt, so Bartens, statt des eingebildeten Kranken längst der ausgebildete Kranke), vielmehr sucht sich jedes Leiden seine Ausdrucksform.
Auch der Medizinbetrieb "erfindet" ständig neue Diagnosen, vor allem im Entdecken immer neuer "Süchte" ist man recht fleißig. Bartens: "Schließlich gibt es ein medizinisches Überangebot in jenen Ländern, in denen existentielle Gesundheitsbedürfnisse längst befriedigt sind. Das Medizinsystem schafft neue Nachfragen, und Eltern wie Lehrer nehmen die Angebote gerne an." Auffällige, temperamentvolle Kinder werden inzwischen per Drogen ruhiggestellt.
Hinzu kommt eine alternde Gesellschaft, die partout jung bleiben will: Fitness-Welle, Schönheitschirurgie und Ernährungswahn erklären den Körper zum Katastrophenfall, der ständig bearbeitet, betreut und beobachtet werden muß; Tod ist etwas, das nur eintritt, wenn nicht genug Vitamine geschluckt wurden. Bartens zitiert in diesem Zusammenhang den Psychiater Klaus Dörner: "Je mehr ich für meine Gesundheit tue, desto weniger gesund fühle ich mich. ( ...) Gesundheit gibt es nur als Zustand, in dem der Mensch vergisst, dass er gesund ist."
Nach Leiden geordnet stellt Bartens das meiste von dem vor, was heute als Störung irgendwie "hipp" ist. Vom "Labilen Bluthochdruck" über den "Brummton-Hörer" bis zur "vielfach-Chemikalien Unverträglichkeit" kommt da manch seltsames Zeug vor. Unabhängig davon, ob die Krankheit echt oder eingebildet ist, gilt für fast alle: je mehr man dagegen tut, desto schlimmer wird's.
Erich Sauer
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