AVANTGARDE

Im Labyrinth des Monologs

Claudia Klischats Erstling »Morgen. Später Abend«

Ein schizophrener Pizzabote, der neben einer fremden Frau aufwacht und versucht, die Bruchstücke seiner Erinnerungen wieder zusammenzusetzen. Ein jugendlicher Straftäter, den es in ein Dorf im Alpenvorland verschlägt. Eine Alkoholikerin, die bei dem Versuch scheitert, sich arbeitslos zu melden - das sind die Protagonisten aus Claudia Klischats Debütroman Morgen. Später Abend. Alle treten sie als Ich-Erzähler auf, und ihre Geschichten sind lose miteinander verknüpft: Babs Stanebein, die Alkoholikerin des dritten Teils, ist die Fremde aus Teil eins, und Tom, der Pizzabote, taucht unter den Dorfbewohnern in Teil zwei wieder auf. Doch was den Roman tatsächlich zusammenhält, ist etwas anderes. Es ist die Art, wie die Figuren zu sich selbst sprechen. Sie schildern Erlebnisse, versuchen sie in größere Zusammenhänge einzuordnen - und scheitern dabei. Das Monologisieren erfüllt seinen Zweck nicht, statt Orientierung zu bieten, führt es jede der Figuren nur tiefer in das Labyrinth ihrer Ängste und Wahnvorstellungen.
Tom will sich an den gestrigen Tag erinnern, um herauszufinden, warum er in einem fremden Bett aufgewacht ist. Schon bald vermischen sich Einbildung und Realität, eigene und fremde Erinnerungen, Vergangenheit und Gegenwart. Irgendwann steht er barfuss auf einem Marktplatz, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen ist. Und das Spiel geht von neuem los.
Oder Veit, der straffällige Jugendliche und Erzähler des zweiten Teils. Mit der Akribie eines Paranoiden sucht er nach Verbindungen zwischen Ereignissen, Dingen und Personen in seiner Umgebung: ein Zwillingspaar, in V-Form angeordnete Holzscheite, ein Müllwagen, Tom und seine Freundin San, Joschka Fischer und Juri Gagarin - überall scheint es Zusammenhänge zu geben, und Veit versucht, diese Zusammenhänge zu entschlüsseln. Bis er merkt, dass das alles mit seinen eigentlichen Problemen gar nichts zu tun hat.
Babs Stanebein schließlich spricht vor allem deshalb zu sich selbst, weil sie ihren Mut und ihr Selbstbewusstsein stärken will. Sie rechtfertigt ihren morgendlichen Schnapskonsum, verteidigt sich gegen imaginäre Vorwürfe von Nachbarn und Bekannten, und erklärt wiederholt, wie und warum sie in ihre derzeitige missliche Lage gekommen ist. Dabei verliert sie jedoch die Wirklichkeit aus den Augen und steht am Schluss mit leeren Händen da.
Alle drei Teile werden als stream of consciousness erzählt: Erlebnisse, Reflektionen und Erinnerungen fließen nahtlos ineinander. Das ist manchmal recht mühsam - etwa in Teil zwei, wenn Ich-Erzähler Veit über halbe Seiten hinweg unvollständige Sätze und isolierte Worte aneinanderreiht. Oft ist es aber auch mitreißend, und manchmal, wie bei einigen Tiraden Babs Stanebeins, sogar komisch.
An die großen Vorbilder - Joyces Ulysses, Canettis Blendung oder die Auslöschung von Thomas Bernhard - reicht Klischats Roman sicher nicht ganz heran. Dennoch ist Morgen. Später Abend mehr als ein interessantes literarisches Experiment. Es ist ein mutiges Buch, vielschichtig, verstörend, und im besten Sinne spannend.
Peter Schulte
Claudia Klischat: Morgen. Später Abend C.H.Beck, München 2005, 287S., 18,90 ISBN: 3406529763