Familie

Unter Schmerzen

Mely Kiyak beschreibt die Krebserkrankung ihres Vaters

Man soll nicht krankwerden. Und wenn, sollte man nicht so krank werden, dass man ins Krankenhaus muss. Und man sollte möglichst nicht ein Feld-,Wald- und Wiesenkrankenhaus im Osten aufsuchen müssen. Und sollte einem doch all das wiederfahren - man sollte keinesfalls Ausländer sein.

Mely Kiyaks Vater hat leider das Pech, dass ihm, dem lebenslang in Deutschland arbeitenden Kurden, all dies geschieht. So liegt er, frisch pensioniert und eigentlich mit ganz anderen Lebensplänen unterwegs, an Schläuche angeschlossen im Krankenhaus, erfährt, dass sein Tumor in der Lunge wächst und dass man nicht operieren könne, lernt, dass er die Chemotherapie weniger gut verträgt als sein Tumor und dass man in deutschen Krankenhäusern sein Essen nicht selbst mitbringen darf und dass es keinen Tee gibt, nur Kaffee. Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an hat Mely Kiyak ihr Buch genannt, das den Leidensweg ihres Vaters beschreibt. Eines liebevollen, aufgeklärten Vaters, ein engagierter Gewerkschafter, der seine Kinder studieren ließ und dem es bis heute peinlich ist, wenn er zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Und während die Tochter alles in Bewegung setzt, um den Vater zu umsorgen, ihn bekocht, sein Krankenzimmer desinfiziert, dafür sorgt, dass es nach einer sechstündigen Röntgenuntersuchung etwas zu essen erhält (das Krankenhaus ist auf so etwas nicht eingestellt und lässt den Patienten bis zur nächsten Hauptmahlzeit hungern), erzählt der Vater Geschichten aus Kurdistan, von seinem Vater und Großvater, der noch als Viehdieb durchs Land zog und den Dörflern die Herden klaute. Vom verrückten Bruder, der 20 Jahre lang in verschiedenen türkischen Gefängnissen saß. Und von ihr, von Mely, die als Säugling beinahe gestorben wäre und wie alle sie bereits aufgegeben hätten und nur der Vater in einer mörderischen Tour einen LKW-Fahrer anhielt, der ihn und seine bereits schwarz angelaufene Tochter in die Stadt fuhr, ins Krankenhaus, wo man aber nichts tun wollte und nur eine Privatbehandlung wider alle Vernunft und alle Erwartungen Rettung brachte.

Solch eine Behandlung steht auch am Ende des Buches, und Kiyak erzählt uns nicht, ob ihr Vater überlebte oder nicht. Es geht auch mehr darum, was die Krankheit mit uns anstellt und mit denen, die um uns herum sind. Und dass Kliniken in Deutschland und der Türkei einen phlegmatisch herzlosen Umgang mit der Not pflegen. Und dass Heilung etwas ist, das eher zufällig dabei herauskommt.

Gerade weil das Buch über ihren Vater so unentschlossen ist, kein Lobgesang auf eine intakte Vater-Tochter-Beziehung, keine Anklage, keine Lebenshilfe oder gar Reflektion über Leben und Tod, gerade weil Herr Kiyak dachte... ein ziemlich wütendes, unbeholfenes, direktes Buch ist, erreicht es einen.

Abgesehen von der Botschaft, dass in Krankenhäusern wirklich auch Tee angeboten werden sollte, und nicht der labbrige Beutelquatsch, sondern korrekt aufgebrühter Tee. "Mein Vater hat hier gearbeitet und zwanzig Jahre lang in dieses System eingezahlt", sagt Mely Kiyak sinngemäß. "Und jetzt bekommt er nicht mal einen Tee."

Erich Sauer

Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an. S. Fischer, Frankfurt 2013, 253 S., 18,99