Kolumnen Deutsche Chronik Mely Kiyak schreibt Briefe an alle Die Kolumne ist schon ein seltsames literarisches Genre. Niemand weiß genau, was sie ist, aber irgendwie hört es sich an, als könnte jeder sie schreiben. Kolumnen finden sich in jeder Zeitschrift und Zeitung. Sie kommentieren etwas, sind persönlich gehalten und arbeiten mit einer Kurzweiligkeit, die sich im besten Falle jedoch festsetzt. Die Autorin Mely Kiyak schreibt ihre Kolumnen seit 2008 für die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung. Aufgebaut sind sie wie Briefe an die jeweiligen Adressaten. Das können Personen sein wie Hans W. Geißendörfer, Steve Jobs oder Sakineh Ashtiani (für diese Kolumne ist sie mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden). Auch Briefe an den Tag der Menschenrechte, die Bomben für Libyen oder Berggorillas sind durchaus nicht unüblich. Immer hat sie ein bestimmtes Anliegen, das sie ganz persönlich mit den Angesprochenen klären möchte. In "Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten" sind rund 120 dieser jeweils knapp zweieinhalb Seiten langen Kolumnen aus den Jahren 2008 bis 2012 versammelt. Sie bilden eine Chronik der Aufregungen, Skandale und Entscheidungen dieses Zeitraums. Beim Lesen, ob nun chronologisch oder immer wieder mal hier und da aufschlagend, erfährt man von einem Deutschland, das noch sehr nahe ist, aber dann auch wieder weit weg, weil die Abstände, in der eben diese Skandale und Aufregungen auf uns einschlagen, immer kürzer werden. Wir begegnen Herrn von Guttenberg, Occupy Wall Street und in vier Teilen dem NSU-Ausschuss. Es ist ein erschreckendes Gesamtbild, das sich in dieser Chronik vor einem auftut. Mely Kiyak schafft es, bei aller Ernsthaftigkeit der Themen, immer auch einen Tonfall einzubauen, der dokumentiert, dass man alles, was um einen herum passiert, eben nicht immer so schnell versteht und verarbeitet, wie es von einem erwartet wird. Natürlich begibt sich der Kolumnist immer in eine Position, in der er durch Themenauswahl und eigenen Standpunkt eine gewisse moralische Instanz bildet, aber Mely Kiyak beherrscht einige Kniffe und Tricks, das sehr sympathisch zu verpacken. Und oft genug passiert es, dass die kurzweilige Verpackung aufbricht und man sich auch nach dem Lesen an die Inhalte erinnert. Und das kann man ja nun nicht von jedem Kolumnisten behaupten. Sacha Brohm
Mely Kiyak: Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 376 S., 9,99
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