STERBEN

Trauriges Trio

Björn Kerns Abschieds-Roman »Einmal noch Marseille«

Die Mutter stirbt, fünf Jahre lang. Der Name der Krankheit wird nicht genannt, sie bewirkt einen langsamen Zerfall, alle Muskeln stellen nach und nach die Arbeit ein, während das Bewusstsein bis zum Ende dabei ist.
Der Ich-Erzähler, der Sohn, ist gleichfalls berührt und genervt. Obwohl längst zu Hause augezogen, zwingt ihn die Krankheit der Mutter wieder ins Elternhaus zurück. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die Sterbenskranke, Vater und Sohn haben kein eigenes Leben mehr. Einmal sieht der Sohn seinen Vater weinen, als der ein Foto seiner Frau als Fünfundzwanzigjährige in Händen hält.
Ohne sie wäre ich nur ein dummer Spießer, sagt der Vater anfangs, als er von der Diagnose erfährt. Beide, Vater und Sohn, sind eigentlich wütend über diese Frau, die sie beide im Stich lässt, und pflegen sie doch liebevoll und bis zum Ende.
In sachlicher, manchmal arg gestelzter Sprache beschreibt Björn Kern dieses traurige Trio. Er beschreibt den Verfall ebenso sachlich wie die vielen unzulänglichen medizinischen Hilfsgeräte: der Leseautomat, das selbstwendende Bett, der Elektro-Rollstuhl - nichts funktioniert, wie es soll und muss, wie die Patientin, ständig beobachtet werden.
Einmal noch Marseille betont das Thema des langen Abschieds. Der letzte Urlaub in Marseille, das letzte Mal im Freien, der letzte Schokoladenpudding: wie ein Countdown zählt die Krankheit die abnehmenden Möglichkeiten durch, jede Erfahrung ist jetzt die letzte, und die Sterbende weiss das.
Anfangs wird der Satz gesagt, den jeder Gesunde sagt: wenn es einmal so weit ist, will ich nicht bis zum Ende dabei sein. Später spielt der Gedanke keine Rolle mehr, auf jeden weiteren Verfall wird mit neuen Maßnahmen reagiert, auch als die Mutter am Ende außer den Augen nichts mehr bewegen kann, will sie keineswegs sterben: ihr Mann hat extra einen großen Spiegel schräg zum Bett aufgestellt, damit sie nach draußen sehen und die Spatzen beobachten kann. Niemand will sterben.
Thomas Friedrich
Björn Kern: Einmal noch Marseille. C.H. Beck, München 2005, 125 S., 12,90 ISBN: 3406535518