HYPER-SCHMÖKER

Die größte Reise der Welt

Reif Larsens »Die Karte meiner Träume« könnte das Wunderbuch des Jahres sein

Das Debüt mit dem womöglich höchsten Vorschuss der Verlagsgeschichte ist es schon. Eine knappe Million zahlte allein der amerikanische Verleger, 29 Verlage weltweit stiegen mit ein, der deutsche sogar noch vor dem amerikanischen. Dabei geht es scheinbar um eine ur-amerikanische Geschichte, wenn auch von hinten aufgerollt. Nämlich um einen 12jährigen, etwas verschrobenen Ranchersohn aus Montana und seine abenteuerliche Reise an die Ostküste, aus dem Pionierland in die Zivilisation, aus der Kindheit in die Welt,

"Harry Potter trifft Huckleberry Finn" ist die erste Assoziation, aber schon bald kommt man mit den Vorbildern nicht mehr nach. Schon wegen der vielen Bilder, die Reif Larsen seinen Tecumseh Sparrow Spivet an die Ränder seines Lebensberichts zeichnen lässt. Und übrigens alle selber zeichnete. T.S. Spivet ist nämlich ein unangepasster Junge mit einem seltsamen Hobby: er fertigt Skizzen, Diagramme, Karten von allem und jedem an. Auf welche Weisen sein Cowboy-Vater Whisky trinkt, welche Eigenarten die Käfer haben, die seine Mutter in der Freizeit erforscht, wie sich Regen und Flüsse über die Wasserscheiden in Amerika verteilen. Später geht es sogar darum, welche Gesichtsmuskeln für die Fratzen zuständig sind, die Leute vor den Kameras ihrer Bankomaten machen.

Klein-Spivet hat schon ein paar wissenschaftliche Zeichnungen in abseitigen Naturforscherzeitschriften veröffentlicht. Nun soll er plötzlich, weil in der großen Welt niemand sein Alter kennt, einen Illustrator-Preis kriegen. Mutig bricht der Junge zum Festakt auf und taumelt durch zunehmend unglaubliche Abenteuer. Ein Wurmloch im mittleren Westen, dass seine Zugfahrt rasant verkürzt, ist nur der Anfang. Der Schritt zum Erwachsen-Werden ist dann das letzte, kurz vor dem das Buch endet.

Offensichtlich geht es Reif Larsen um einen Reifeprozess, weil sich sein Junge ständig über die komischen Erwachsenen wundert, deren seltsamen Gebaren er mit seinen Zeichnungen beizukommen versucht. Es gibt eine verschüttete Familiengeschichte (Wie starb der Bruder? Warum gab Mutter ihre Käfer-Karriere für den Cowboy auf?), und es gibt altkluge Einsichten (Erwachsen werden bedeutet, Unbekanntes in Bekanntes überführen).

Ebenso unübersehbar geht es Reif Larsen darum, einen altmodischen Roman auf der Höhe der Zeit zu schreiben. Wie in einem explodierten Hypertext entfalten sich auf jeder Seite "Links" zu angrenzenden oder weit entfernten Wissensgebieten. Manchmal zerfasert dabei die Kerngeschichte, manchmal würde man lieber einem Nebenpfad folgen, aber immer holt einen die Sprachmelodie zurück zum Text, der durchweg warme Ton, der das im Prinzip kopflastige Konstrukt schön auf der Erde hält.

Der deutsche Titel vereinfacht das Mixed-Media-Experiment bis an die Grenze des Kitsches, was zum gefühligen Ende passt. Der Original-Titel "The Selected Works of T.S. Spivet" ist, zumal für ein Debüt und passend zum Mittelteil, ironischer. Außerdem enthält die amerikanische Ausgabe eine Zeichnung mehr: Ein Strichmännchen erklärt "How to read this Book" anhand eines Buches mit dem Titel "How to read this Book".

Ohne diesen Hinweis muss man sich unbedingt Reif Larsens Website zum Buch angucken: www.tsspivet.com.

Wing
Reif Larsen: Die Karte meiner Träume. Aus dem Amerikanischen von Manfred Alliè, S. Fischer, Frankfurt 2009, 460 S. mit vielen Illustrationen, 22,95