GESCHICHTE
Ein ganzer Karl
Dieter Hägermann rettet den Herrn Kaiser
Insgeheim hängen wir ja dem Sonderlings-Gerücht an, Karl den Grossen habe es gar nie gegeben (und die Jahre von 614-911 auch nicht); aber wenn es ihn doch gab, dann wohl so, wie der Bremer Geschichtsprofessor ihn beschreibt. Karl der Große, Herrscher des Abendlandes ist die neueste, beste, dickste - und verwirrendste Biografie zum Jubelmann. Erschienen Ende 2000, angeblich 1200 Jahre nach der Krönung zum Kaiser, und mit etwas gutem Willen auch über professorale Vokabelbarrieren hinweg gut und lehrreich zu lesen.
Einerseits nämlich korrigiert Hagemann so ziemlich jede populäre Karls-Sage (er konnte schreiben, er kannte keine Steigbügel, er war kein Deutscher ...); auch rät er durchgehend zu äusserster Skepsis gegenüber den "Quellen" (was nicht sicher später gefälscht wurde, war garantiert Ergebnis interessegeleiteter Datenmassage, wenn nicht gar Erfindung) ... andererseits erzählt er dann doch lieber die breit überlieferten Texte nach als die knappen Ausgrabungsfunde zu kommentieren. Und deutet auf der letzten Seite vorsichtig an: der "Wegbereiter Europas" bedürfe eh keiner sichtbaren Zeugnisse, gerade in der "Idealisierung" liege seine Wirkung und Wichtigkeit.
Weiter kann eine Karl-Korrektur, die die seit Jahrzehnten lauter werdenden Zweifel der außer-akademischen Opposition (verbunden mit dem Namen Heribert Illig) mit keinem Wort erwähnt, wohl gar nicht gehen.
Ganz gegen sein ausgesprochenes Ziel, den fränkischen Emporkömmling als grossen Modernisierer zu porträtieren, gelingt Hägermann damit vor allem dies: zu zeigen wie lange das alles her ist (egal ob 1200 Jahre oder 297 weniger). Karls Vorgänger hatten noch einen leibhaftigen Drachen als Ahnen - Karls Zeitgenossen hießen noch archaisch Einhart, Grimoald, Pippin - Karls Nachfolger kriegten noch ein Jahrhundert lang keine Zentralverwaltung hin ... Karl ist, erfunden oder erklärt, eine Figur des ganz ganz frühen Mittelalters. Zur "Symbolfigur Europas" taugt er nur auf Klappentexten.
WING
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