MEDIEN

Kollaterales Lernen

Steven Johnson erklärt, warum uns die Pop-Kultur immer klüger macht

Wenn man zählt, wie oft im Fernsehen geflucht wird oder wie viele nackte Brüste an einem Abend versendet werden, mag man der Meinung sein, dass das Fernsehen immer blöder wird. Steven Johnson nennt solch eine Kritik "symbolisch". Er selbst nähert sich den Phänomenen der Massenkultur "systemisch". Das heißt: Ihn interessiert nicht, wie intelligent die Inhalte sind, er analysiert, wie komplex sie aufbereitet werden.
Moderne Unterhaltung wird strukturell immer komplexer, sagt Johnson. Eine Folge von Emergency Room" oder 24 ist komplizierter als etwa eine Episode von Starsky & Hutch. Seinfeld ist komplexer als Mary Tyler Moore. Wer einer Folge der Sopranos folgen will, muss nicht nur eine Menge Hirnschmalz investieren, er wird dafür auch noch belohnt, weil er Anspielungen und Hinweise versteht, die nur für den aufmerksamen Zuschauer eingebaut wurden.
Das wiederum, so Johnson, wurde erst möglich im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit. Wer eine TV-Serie auch noch als DVD verkaufen will, muss Ware präsentieren, die auch das zweite und dritte Sehen zum Vergnügen macht.
Dass die Pop-Kultur in ihrem Aufbau - vom TV übers Internet hin zu den Videospielen - immer anspruchsvoller wird, macht uns klüger, sagt Johnson. Es fördert nicht gerade unsere Lese- und Schreibkompetenz, aber es trainiert unser Denken auf eine sehr grundsätzliche, allgemein nützliche Art und Weise. Während wir den meist flachen Inhalten der Popkultur folgen, erwerben wir nebenbei Techniken der Wissensverwaltung; Johnson nennt das "collateral learning".
Als einen Beleg dafür führt er den sogenannten Flynn-Effekt an, nach dem die durchschnittlich gemessene Intelligenz bei IQ-Tests kontinuierlich zunimmt. Wir alle werden immer schlauer (vielleicht kommt uns deshalb die Welt immer dümmer vor).
Johnsons Buch Everything Bad Is Good For You ist auch eine Polemik gegen wohlfeile Kulturkritik, derzufolge früher alles besser war. Gleichzeitig bricht Johnson aber auch auf witzige und kluge Art und Weise eine Lanze für neue Medien wie Internet und Videogames. Windows XP zu konfigurieren erfordert mehr Intelligenz als Karl May zu lesen, Die Sims erfolgreich zu spielen mehr Vorstellungsvermögen als eine Partie Malefiz.
Dass alles grundsätzlicher immer komplizierter wird, ist unserem neugierigen Verstand zu verdanken, der immer neue Herausforderungen sucht, sagt Johnson. Weshalb zu den erfolgreichsten Longsellern der Computerspiele eben nicht die Ego-Shooter und Massaker-Spiele gehören, sondern Spiele, die jedesmal neue Situationen und Herausforderungen schaffen: Die Sims, Zelda, Civilization.
Wer mal wieder am Abend zu müde ist, Peter Handke zu lesen und statt dessen lieber eine Runde Age of Empires spielen oder eine Folge ER gucken will, braucht also kein schlechtes Gewissen zu haben: Wenn er nicht schon vorher ein Genie war (denn für die lässt Johnson seine Argumentation ausdrücklich nicht gelten!), wird er beim Daddeln und TV-Gucken unaufhaltsam immer klüger. Das ist mehr als sich von der Handke-Lektüre sagen lässt.
Erich Sauer
Steven Johnson: Neue Intelligenz. Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden Deutsch von Violeta Topalova. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 238 S., ISBN: 3462036637