AUSSTEIGER
Wahl der Qual
Mit Herrn Jensen präsentiert Jakob Hein einen prinzipiell Unentschlossenen
Das Leben ist eine Kette von Entscheidungen. Behaupten jedenfalls die Soziologen und nennen das Multi-Options-Gesellschaft. Die einen fühlen sich darin pudelwohl und starten ihr Projekt Selbstverwirklichung. Die anderen - das sind Menschen wie Herr Jensen. Der würde in einer Gesellschaft mit weniger Optionen erheblich besser zurechtkommen. Herr Jensen lässt lieber andere für sich entscheiden.
Während der Schulzeit fällt sein Verzicht auf Selbstbestimmung noch nicht weiter auf. Spätestens bei der Wahl des Studiums und der ersten Bettgefährtin muss sich auch Herr Jensen mal entscheiden. Ab da beginntīs zu kriseln. Er verzweifelt im Philosophie-Studium an den verschiedenen Denkschulen und wechselt in die Naturwissenschaften. Aber schon die nächste Semesterplanung überfordert ihn und er lässt sich exmatrikulieren.
Mit den Frauen ist es noch schlimmer: Blond, braun, dick, dünn - die holde Vielfalt präsentiert sich Herrn Jensen wie eine offene Versuchsanordnung. Besser seinlassen. So konzentriert er sich auf seinen Job bei der Post und will dort bis zur Rente eine ruhige Kugel schieben.
Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Herrn Jensen wird nach zehnjähriger Mitarbeit auf Studentenbasis gekündigt. Sich einfach nur mitschleifen lassen - das ist heute nicht mal mehr bei der Post möglich.
Jakob Hein, in der DDR aufgewachsen, hat ein Gespür für die Bruchstellen des Systems. So wie er sich in Mein erstes T-Shirt einen unsentimentalen Blick auf die DDR bewahrt hatte, so lässt er Herrn Jensen durch die Arbeits(losen)-Welt stolpern. Die Kapitel, in denen die Romanfigur von roboterhaften Arbeitsvermittlern durchgeschüttelt und zwangsmotiviert wird, lesen sich auch noch recht komisch. Im Verlauf kippt die Stimmung und der kauzige Nichtsnutz wird dem Leser langsam unheimlich.
Hier ließe sich der Hauptberuf des Autors - Kinderpsychiater - ins Spiel bringen und damit der gesamte Roman als Krankenakte lesen. Aber das ist zu banal, zumal Herr Jensen ohne Jobverlust vermutlich unauffällig geblieben wäre. Vielmehr erinnert die Romanfigur im letzten Drittel an Melvilles Bartleby, den seltsamen Archivar und immer konsequenteren Arbeitsverweigerer.
Mit dem fast vollständigen Verzicht auf direkte Rede oder Angaben zu Herrn Jensens Äußerem - vom Vornamen ganz zu schweigen - bleibt der Leser dabei stets auf Distanz. Im Zeitalter der Individualisierung und Selbstverwirklichung ist Herr Jensen steigt aus ein kleiner, gemeiner Dissidenten-Roman.
Frank Krings
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