GRUSEL
Leben & Leben lassen Jonathan Carroll zieht uns den Boden weg Der Amerikaner in Wien hat einen Ruf als magischer Realist, als Literat unter den Großerschreckern. Und er wird ihm immer wieder gerecht. Diesmal mit der Lebensgeschichte einer alten Frau, die damit beginnt, wie die junge Frau auf dem Weg zu einem Klassentreffen auf der Standspur der Autobahn eine alte Frau im Rollstuhl sieht. Man ahnt, wie das endet, aber Carroll legt 400 Seiten voller Abwege dazwischen. Die Heldin des Romans ist erfolgreich, trauert aber einer abgebrochenen Schulliebelei nach. Findet einen Mann, der ihrem Jugendschwarm ähnelt, holt alles verpasste nach, kriegt ein Kind ... und dann geht alles durcheinander. Nicht gelebte Leben, alternative Zukünfte, Menschen im Konjunktiv bevölkern ihre Welt, und in einem leeren Autokino laufen Lebens-Fetzen auf der Leinwand. Wieso verfilmt eigentlich keiner Carroll? Weil es noch viel schlimmer kommt. Im Sanatorium "fieberglas", in dem Leute wie unsere Heldin darauf vorbereitet werden, zu bemerken, was sie sind. Und sich zu entscheiden, wie sie damit weiter leben wollen. Sehr verstörend. Es fliesst kaum Blut, verschiedene Wirklichkeiten schieben sich zuweilen in einem Satz zusammen, und immer, wenn man denkt: ah, jetzt kommt die Nummer mit der Liebe, die das Grauen besiegt, dann kommt sie auch, aber anders. WING
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Jonathan Carroll: fieberglas. Eichborn, Frankfurt 2002, 376 S., 19,90 EU |