DEUTSCHLAND Überlebt Marie Jalowicz Simon erzählt von einem anderen Deutschland Etwas unvermittelt stolpern wir ins Schicksal der jungen Marie, die scheinbar dem Meistbietenden in einer Kneipe als Unterschlüpfling angeboten wird. 1942 in Berlin, und sie kann von Glück sagen, dass sie bei einem Nazi landet, der sich schon bald bei seinem billigen Dienstmädchen dafür entschuldigt, sich wegen einer Kriegsverletzung ihr nicht sexuell nähern zu können. So überraschend geht der Lebensbericht weiter, den Marie Simons Sohn ihr erst Jahrzehnte später entlocken konnte. Darin fällt vor allem auf, dass sie weder pauschal mit den Deutschen abrechnet, noch ein abwägendes, gar differenzierendes Urteil über die vielen Menschen versucht, die ihr begegneten. Vielmehr erzählt sie ziemlich nüchtern, direkt und mit Witz Einzelheiten von hier und da, die kein Gesamtbild ergeben. Da kommen die Eifersüchteleien innerhalb der Jüdischen Gemeinde vor, die die rechtzeitige Ausreise der Anwaltstochter verhinderten. Aber auch der nackte Abscheu gegenüber den hygienischen Verhältnissen späterer Schlupfwinkel. Nach dem Tod des Vaters 1941 ist sie ganz allein und "kündigt", eigentlich eine Unmöglichkeit, ihre Anstellung als Zwangsarbeiterin bei Siemens. Marie geht in den Untergrund, ganz unpolitisch, nur um zu überleben. Sie lernt, jede Hilfe anzunehmen, von Antifaschisten und von Antisemiten, von netten Nachbarn und von nicht ganz so netten Männern. Marie führt sich nicht als Heldin auf, sie steht in ihrer Nacherzählung oft fassungslos vor sich selbst. Man merkt manchmal, dass hier ein Frau erzählt, die später Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte in Berlin-Ost wurde, aber man ist immer der 19-jährigen nahe, die sich in den Kopf setzte, Berlinerin zu bleiben. Und schallend mitlachte, wenn die Ausgebombten sich über eine "Prost Neujahr"-Torte amüsierten, neben der im Bäckereischaufenster deutlich ein Schild "Attrappe" stand. Wing
Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 - 1945. Mit einem Nachwort von Hermann Simon, Sohn von Marie Jalowicz Simon, Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum. S. Fischer, Frankfurt/M. 2014, 416 S., 22,99
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