ISLAM

Ein fremdes Land

Bernard Lewis untersucht den Untergang des Morgenlandes

Sein neues Buch war schon in Produktion, als der 11.9. den "Kampf der Kulturen" scheinbar zur schrecklichen Praxis werden ließ. Bis dahin hatte der englische Professor an amerikanischen Universitäten viel Theorie über den Nahen Osten und seine weltanschaulichen Unterschiede zum engeren und weiteren Westen geschrieben. Auch Der Untergang des Morgenlandes war weitgehend vorgefertigt; Lewis montierte den Band aus Vorlesungen und Vorträgen zusammen, die er in den 90ern in Europa für ein Fachpublikum veröffentlicht hatte. Jetzt spricht er auch Laien an. Aber nicht den vereinfachenden Zeitgeist. Lewis setzt nicht frustierte Kameltreiber gegen vollgefressene Kant-Leser. Er analysiert lieber historisch, wie es dazu kommen konnte, dass die seiner Meinung nach freieste und fortschrittlichste Weltanschauung des Mittelalters so "rückständig" werden konnte. Und weshalb die ziemlich verspäteten moslemischen Modernisierungen nur militärische Technologie und totalitäre Ideologie vom Westen übernahmen, aber nicht Kunstmusik, Frauen-Emanzipation und freie Wirtschaft und Wissenschaft.
Warum haben nicht die Moslems Amerika entdeckt, obwohl ihre Schiffe fast überall waren? Warum wurden aus einigen ehemals westlichen Kolonien Boom-Regionen, aus anderen aber Armenhäuser? Warum ließen die Kalifen ihre experimentierenden Ärzte leben und verboten bloss ihre Bücher - während der Westen Abweichler gern umbrachte, aber ihre Erkenntnisse weiter nutzte?
Manchmal sind Lewis historische Untersuchungen überraschend bis möglicherweise lächerlich (das Morgenland entwickelte kein frühes Fahrzeug-Wesen und stellte sehr lange keine öffentlichen Uhren auf), manchmal ist seine Militärgeschichte etwas zu eng an den Quellen, um direkte Erkenntnisse für heute abzuwerfen, aber alles in allem entsteht ein differenziertes Bild einer anderen Welt.
Nicht der Islam ist an allen Versäumnissen Schuld, nicht das Christentum hat alles in Ordnung gebracht; nicht alle Freiheiten wachsen an dem selben Baum (im Irak ist die Stellung der Frau vergleichsweise modern), aber Ignoranz dem Anderen gegenüber schadet allen. Umgekehrt garantiert die Trennung von Religion und Staat kein modernes Gemeinwesen, sie ermöglicht es nur.
Lewis' Sympathie gilt offensichtlich dem Kurs Kemal Atatürks, aber er vermeidet es, die gegenwärtige Türkei als Musterland anzupreisen. Er macht keine aktuelle Geopolitik, er interessiert sich nicht dafür, welche Herabsetzungen wir dem Morgenland tatsächlich angetan haben, er markiert systematische Unterschiede, manchmal am schlagenden Beispiel: Westliche Korruption setz Geld ein um mehr Geld zu kriegen, um davon vielleicht Macht-Vorteile zu kaufen - östliche Korruption besorgt sich Macht, um dann Geld daraus abzuzweigen. Beides sei moralisch verwerflich, aber der westliche Weg schade der Wirtschaft weniger.
Das ist nun nicht das im Klappentext versprochene klare Rezept, um das Morgenland richtig zu modernisieren , aber Lewis hilft, es richtiger zu verstehen
WING
Bernard Lewis: Der Untergang des Morgenlandes. Wie die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Aus dem Englischen von Friedel Schröder und Martina Kluxen-Schröder. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2002, 256 S., 19.90 EU, ISBN: 3785721080