FAMILY VALUES

Jeder gegen Jeden

Eine Familie am Rande des Wahnsinns

Schreckliche Gegend, schreckliches Haus, schreckliche Bälger"- dieser Satz aus Ingrid Hoogervorsts Debütroman gibt knapp und präzise den Inhalt wieder. Im Westen von Amsterdam wohnt eine sechsköpfige Familie in einer großzügigen Wohnung. Diese Familie - der Vater jüdischer, die Mutter indonesischer Herkunft - ist komplett durchgeknallt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Pinkie, der jüngsten Tochter. Es vergeht kein Tag, an dem die Kinder sich nicht in den Haaren liegen, sich bespucken und kratzen, an dem ihre Mutter keine zerbrechlichen Gegenstände gegen die Wände wirft.
"Es geht so wüst zu wie in einem Hundezwinger, in den eine Katze gefallen ist", sagt die kleine Pinkie über ihr Zuhause. Zu der Wut, die sich ungehemmt zwischen den heimischen Wänden entlädt, kommen noch das unerträgliche Phlegma des Vaters und die ständigen Nörgeleien der Mutter, die ihrer Jugend in Indonesien nachtrauert.
Ingrid Hoogervorst, Literaturwissenschaftlerin und freie Kritikerin bei der Zeitung De Telegraaf, will "eine Lanze für die Wut als Motor brechen". Man soll lieber mit der Faust auf den Tisch hauen anstatt in Tränen auszubrechen, wenn einem was nicht passt.
Aber nach diesem Roman, der von Hass, Missgunst und Elend erzählt, will man erstmal nichts mehr wissen von zornigen Kindern, die anderen die Zähne ausschlagen und den Kopf an die Wand hauen. Man ist auch froh, dass man nicht in diesem schlimmen Amsterdamer Viertel im unwirtlichen Nachkriegs-Klima wohnt, und man betet, dass man nicht so stirbt wie die todkranke Frau, deren Geschichte in kurzen Kapiteln abwechselnd zur Familientragödie erzählt wird - verbittert und einsam.
Gleichzeitig fasziniert die Erzählweise der Autorin; wie sie das Innenleben der jähzornigen Familie mal radikal, mal subtil schildert, und wie sie die wenigen glanzvollen Momente ausschmückt, wenn etwa vom idyllischen Indonesien die Rede ist.
Was nervt, sind die Liedtext-Einstreusel, die wohl nur dazu da sind, die jeweiligen Kapitel zu betiteln. Als gewöhnungsbedürftig stellt sich auch die holländische Umgangssprache, bzw. deren Übersetzung heraus, und wenn die Erzählung zu lange in die indonesische bzw. jüdische (Kriegs-) Vergangenheit abschweift, wird's auch mal langweilig.
Insgesamt jedoch ist Die Wut der anderen ein ungewöhnliches und deshalb bemerkenswertes und interessantes Buch, in dem nichts seine gewohnten Bahnen nimmt, jeder jeden hasst und ein Happy End eine Überraschung wäre.
Michaela Sommer
Ingrid Hoogervorst: Die Wut der anderen Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Eichborn, Frankfurt/Main 2004, 233 S., 19,90 ISBN: 3821809590