ERINNERUNGEN

Verlorenes Kind

Alexa Hennig von Lange kann auch traurig sein

Grau und trostlos ist alles, wohin man blickt. Die junge Ich-Erzählerin erinnert sich an den Tod ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders vor 17 Jahren. Jetzt ist sie mit ihrem wortkargen Vater an den Ort des Unglücks gereist, ein Ferienhaus an der Nordsee. Der Vater war schuld, jedenfalls schwingt diese Möglichkeit zwischen den Zeilen mit. Und während der einst so bestimmende, selbstgefällige Vater immer stummer und zurückgezogener wird und jede Auseinandersetzung scheut, sucht die junge Frau Worte und Bilder, die ihre Gefühle beschreiben.
Vor unseren Augen steht die Vergangenheit auf, eine Kindheit, die mit dem Tod der Mutter vorbei war; das Mädchen kommt in eine Klinik und lernt zwischen Magersüchtigen und Selbstmordkandidatinnen die Kunst der Verdrängung. Das gestörte Kind wird zum verlorenen Kind. Die Welt wird grau, zuvor besaß sie die grellen, unnatürlichen Farben der 70er Jahre. In dieser im Rückblick künstliche beleuchteten Zeit spielten Gewohnheiten eine große Rolle, die morgendliche Milchsuppe, das ritualisierte Streiten der Eltern, die regelmäßigen Wanderungen im Watt.
Später tarnt der Vater seine Trauer als Rührung, er ist von sich selbst und seinem Schicksal gerührt, vom Tod seiner Frau, die ihn betrog und des Sohnes, der nicht sein Sohn war. So ist er kein Leidensgenosse und Trostgeber. Er hat seine Vaterrolle verspielt, die Versatzstücke für ein neues Leben sucht sich Hennig von Langes Heldin (wie es ihre Heldinnen immer tun) in der eigenen, trotz aller Widrigkeiten ungebrochenen Persönlichkeit.
Julika Pohle
Alexa Hennig von Lange: Woher ich komme. Rowohlt, Berlin 2003. 109 S., 14,90 ISBN: 3871344591