ABSTIEG

Down and out

John O'Haras Säuferroman »Begegnung in Samarra« wird wiederentdeckt

Die Rezensenten, der Klappentext, die Internet-Buchtipps, alle beschreiben lobesvoll die erste große Szene dieses Buches: Julian English, ein junger Autohändler, kippt Harry Reilly, dem ältlichem Salonlöwen, bei einer High Society-Party einen Drink ins Gesicht. Damit beginnt Julians rasanter Lauf in den Abgrund. Wohl aus Furcht vor der gesellschaftlichen Erstarrung stürzt er sich immer schneller auf den Tod zu. Das ist nicht schlecht erfunden. Aber der eigentliche Witz an John O'Haras Debüt ist: er beschreibt die Szene gar nicht.
O'Hara schildert die Party, er erzählt Reillys klebrige Witze nach, er läßt Julian tagträumen, wie es wäre, würde er dem Großmaul, das keiner mag, seinen Highball ins Gesicht schleudern. Minutiös malt Julian sich das Tohuwabohu aus, probiert in Gedanken die Pose des coolen Rebellen, und weiß jederzeit, dass er sowas natürlich nie tun würde. Schnitt.
Nun sind wir im Nebenzimmer, und O'Hara stellt uns eine Menge Nebenfiguren vor, bis plötzlich jemand hereinstürzt: Julian English habe ... das müsse man sich mal vorstellen! So bleibt der Skandal sozusagen über Bande dauerhaft präsent und bei allem, was Julian von nun an verbockt, rutscht dem Leser ein Eiswürfel im Kragen herum.
Wer mehr an Kolorit als Cleverness interessiert ist, konzentriert sich auf das böse Mittelstadtporträt aus den 30er Jahren Amerikas. Die Reichen sind nur noch wohlhabend, es herrscht Prohibition, aber alle sind ständig betrunken, und ganz allmählich ruinieren schwere Autos und selbstbewusste Frauen die strengen Regeln der besseren Gesellschaft.
John O'Hara war 28 und bis nur dahin als Journalist mit Alltags-Reportagen aufgefallen, vor allem aber durch rüpelhaftes Wesen und unmäßigen Schnapsverbrauch. Sein schwer autobiografischer Roman machte ihn schlagartig in der New Yorker Literatur-Szene zum Star, Ernest Hemingway und Dorothy Parker waren begeistert, das Time-Magazine zählt das Buch noch heute zu den 100 wichtigsten amerikanischen Romanen der Neuzeit. O'Haras Heimatstadt in der Provinz aber war beleidigt, weil sie sich so genau getroffen sah.
Er schrieb 400 Kurzgeschichten und 14 Romane (Butterfield 8 wurde verfilmt), hielt sich selbst für einen Nobelpreis-Kandidaten und ließ 1970 auf seinen Grabstein schreiben: "Besser als jeder andere erzählte er die Wahrheit über seine Zeit."
Der Titel seines nun in Deutschland wiederentdeckten Erstlings (Original: Appointment in Samarra) bezieht sich auf eine in Amerika oft zitierte arabische Legende. Ein Mann trifft in Bagdad auf dem Markt den Tod, der eine Drohgebärde macht. Der Mann flieht in panischer Angst weit weg, nach Samarra. Der Tod aber erzählt kopfschüttelnd einem Bekannten des Flüchtigen, er habe dem Mann gar nicht gedroht, er sei nur überrascht gewesen, ihn in Bagdad zu sehen. Schließlich habe er doch eine Verabredung mit ihm in Samarra.
WING
John O'Hara: Begegnung in Samarra. Aus dem Englischen von Klaus Modick. Mit einem Nachwort von John Updike. C.H. Beck, München 2007, 320 S., 19,90