NETZWELTEN Seelenfischer Tim Guest bereist virtuelle Realitäten in »Die Welt ist nicht genug« Muss der Erfinder des deutschen Titels eigentlich Tantiemen an James Bond zahlen? Hätte der Autor ein anderes Buch über die "Second Lives" so vieler Desktopflüchtlinge geschrieben, wäre er nicht beim Bhagwan aufgewachsen? Man weiß es am Ende dieses ersten umfassenden Reiseberichts aus einem Dutzend Online-Welten nicht. Aber man merkt, dass die wirkliche Wirklichkeit notwendig als Folie zu den virtuellen Fluchtphantasien gehört, und dass jede Welt gute Gründe liefert, sich darum zu bemühen, aus ihr zu verschwinden. Tim Guest reist on- und offline zum König der Welt, der in Südkorea seine Imbiss-Bude in die Pleite treibt, zum Gott der Linden Labs, der es gar nicht mag, wenn man ihn Guru nennt, oder zu einer Gruppe Schwerstgelähmter, die mit ihrem Avatar - und einer Betreuerin - im Second Life ein bisschen am echten Leben teilhaben. Guest porträtiert ein Dutzend künstliche Welten und beschreibt nahezu ethnologisch drei Dutzend Lebensweisen darin. Die einen scheffeln sinnlos Spielgeld, andere spielen Mafia und schöpfen echte Gewinne ab, viele kümmern sich lieber um ihre relativ billigen Online-Luxusvillen als um eine nervenzerfetzende echte Karriere. Und dann und wann verlassen chinesische Elfen in der World of Warcraft das spielerische Kampfgeschehen, um im Schatten eines Zauberwaldes über echte Politik zu diskutieren. Weltweit sind jeden Tag mehr Menschen mit solchen Zweitleben beschäftigt, als die BRD Einwohner hat. Und langsam fällt im echten Leben auf, dass ein Online-Account billiger ist als ein Abo im Fitness-Studio, aber mehr Zeit kostet, wenn es Spaß machen soll. Fantasie kann frei machen - und dick. Tim Guest feiert klugerdings nicht das Virtualisieren als Seelenweg ins Paradies, aber er beschwört auch nicht den Matrix-Teufel. Die "Second Lives" des Originaltitels sind nicht das wahre Leben ohne Alltagszwänge, aber auch nicht die Hölle. Er findet, Weltflucht sei ein Menschenrecht, und er deutet an, dass die wirkliche Welt wohl ein Problem hat, wenn so viele sie verlassen wollen. Eine Welt ist nicht genug. Aber viele sind auch nicht die Lösung. WING
Tim Guest: Die Welt ist nicht genug. Reisen in die virtuelle Realität Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Rogner & Bernhard, Berlin 2008, 364 S., 19.90
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