TSCHETSCHENIEN Splitternde Augen Asne Seierstad erzählt aus einem zerstörten Land Dem Kalender nach ist jetzt Frühling in Grosny. Der tschetschenische Präsident hat überall in der Hauptstadt Blumenwiesen anlegen lassen und der russische Präsident hat neulich verkündet, Tschetschenien sei nun wieder eine normale Republik und nicht mehr Sondereinsatzgebiet für Antiterrormassnahmen. Am Anfang von Asne Seierstads "Der Engel von Grosny" ist auch Frühling, aber ein sehr trostloser. Ein 12jähriger Junge streunt durch Ruinen und tötet Hunde. Immer wieder. Tauben erschlägt er aus Hunger, aber streunenden Hunde zu töten macht ihn irgendwie lebendig. Vorn vornherein setzt die norwegische Kriegsreporterin auf starke Bilder, mehr als auf ausfühliche Erläuterungen der komplizierten verhältnisse. Manchmal werden diese Bilder etwas kitschig, wenn sie etwa in einem gesprungen Spiegel des Morgens erschreckte Augen sieht und erst spät bemerkt, dass es ihre sind. Aber oft wirken die literarisch etwas arrangierten Gesten tiefer nach, als es Opferstatistiken könnten. Zwei mal war Asne Seierstad in Tschetschenien, 1995 als junge Journalistin, die in Moskau nicht mehr den Fernsehbildern trauen wollte; und 2006 noch einmal. Da war sie schon berühmt für ihre Reportagen aus aller Welt und schlüpfte illegal in das Sondereinsatzgebiet. Im Zentrum ihrer Montage aus zwei Reisen steht der "Engel von Grosny", eine kaukasische Frau, die ein Waisenhaus für Strassenkinder betreibt. Die leiden noch immer an den Kriegsfolgen, oft unter der eigenen Verrohung, und manchmal mehr unter ihren moslemischen Verwandeten als unter den russischen "Besatzern". Asne Seierstadt überschreitet ständig Grenzen, ignoriert offizielle Fronten. Sie lässt sich von russischen Truppen nach Grosny bringen und entkommt nur knapp einem Vergewaltigungsversuch durch einen russischen Soldaten. Sie wohnt bei tschetschnischen Frauen und lernt schnell, nicht zu fragen, wo die Väter und Söhne sind - in den Bergen, bei den Rebellen. Sie porträtiert viele tschetschnische Opfer und immerhin ein russisches ... und sie montiert immer wieder Erlebtes, Gehörtes und vermutlich passend Erfundenes zu eindringlichen Episoden. Diesmal hat Asne Seierstad die Hauptpersonen Teile des Buchs gegenlesen lassen. Damit nicht wieder passiert, was ihren Bestseller "Der Buchhändler von Kabul" in Misskredit brachte. Für den hatte sie einen mutigen Mann porträtiert, der unter den Taliban wichtige Bücher vor der "Kulturrevolution" rettete, aber ihn, nachdem sie Monate unter seinem Dach lebte, auch als islamischen Patriarchen desavoiert, der seine Söhne schlägt und seine Frauen schlecht behandelt. Nach Kabul wird sie wohl nicht mehr reisen. Nach Grosny wohl auch nicht, weil der amtierende Präsident Tschetscheniens, ein russlandfreundlicher Moslem, sein nach Wodka riechendes Porträt als Potentat sehr unpassend finden wird. WING
Asne Seierstad: Der Engel von Grosny. Tschetschenien und seine Kinder. Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider. S. Fischer, Frankfurt 2009, 411 S., 21,95
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