GRIPPE

Die vergessene Geissel

Eine kurze Geschichte der spanischen Krankheit

Es gibt jede Menge schlimme Krankheiten, und eine der schlimmsten ist zugleich eine der gewöhnlichsten: die Grippe. An der Influenza stirbt man heute kaum noch, ab 1918 jedoch raste eine Grippe-Welle mehrmals um die Welt, die bis zu 100 Millionen Tote forderte. Fast wäre noch der erste Weltkrieg an ihr verendet, weil ganze Regimenter Fieber hatten, trotzdem ist diese Pandemie fast völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Nur in der Variante "Vogelgrippe" taucht sie seit einigen Jahren als Bedrohung wieder auf.

Der Arzt und Historiker Wilfried Witte fasst nun in Tollkirschen und Quarantäne viele alte Quellen und einige moderne Erkenntnisse zusammen. Hauptsächlich konzentriert er sich auf Krankengeschichten, Therapieversuche und wissenschaftliche Kontroversen aus der Zeit, als noch niemand Viren kannte und sogar die "Ansteckung" noch nicht allgemein als Verbreitungsweg einer Krankheit galt.

Zwischen den medizinhistorisch wertvollen Stellen gibt es aber auch Infektionsmaterial für weitergehende Gedanken. Wieso ist Kafkas Lungenkrankheit ein Kulturgut, seine Grippeepisode aber nicht? Weil etwas Abgeschlagenheit nicht als existentielle Metapher taugt. Wie kam es zu der Presse-Ente, die Seuche sei "spanisch"? Weil der spanische König an ihr erkrankte und in den kriegführenden Staaten die Zensur eigene Verluste verschwieg. Warum schreibt heute jeder, die Vogelgrippe komme von Asiaten, die Geflügel im Wohnzimmer halten, obwohl jeder Virologe ausrechnen kann, dass eine europäische Hühnerfarm ein höheres Mutations- und Infektionsrisiko ist? Andererseits fehlt auch viel. Witte kann nicht erklären, warum die größte Seuche des letzten Jahrhunderts so schnell fast völlig vergessen wurde. Er kümmert sich nicht um populäre Verarbeitungen am Anfang dieses Jahrhunderts, als ein Dutzend Thriller die Grippe zur drohenden neuen Pest hochfantasierten. Er schließt nur streng wissenschaftlich unaufgeregt, eine neue Pandemie werde sicher kommen. Und er deutet an, dass weder Impfen noch Therapie dagegen helfen werden. Sondern wohl bloss die Einstellung des öffentlichen Lebens.

Wing
Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe. Wagenbach, Berlin 2008, 128 S., 16,90