GESCHICHTE

In kalter See

Günter Grass macht mit »Im Krebsgang« ein Fass Geschichte auf

Im Jahr 1938 baute die Werft Blohm & Voss ein Passagierschiff, das ein Prachtexemplar in Hitlers Kraft-durch-Freude-Flotte werden sollte. 54 freudvolle Fahrten brachte die Wilhelm Gustloff hinter sich, bis sie während des Zweiten Weltkrieges von der Marine übernommen wurde. Vom Gotenhafen bei Danzig brach der mit über 10.000 Flüchtlingen an Bord hoffnungslos überfüllte Ex-Luxusliner am 30. Januar 1945 auf, um den Truppen der nachrückenden Roten Armee zu entkommen. Auf Höhe der Stolper Bank wurde die Gustloff von einem russischen U-Boot torpediert und sank. Nur 1250 Menschen konnten lebend geborgen werden, die übrigen ertranken in der kalten Ostsee.
Mit Akribie stellt Grass historische Gestalten vor: alle, die irgendwie mit dem Untergang des Schiffes zu tun hatten, vom Namensgeber Wilhelm Gustloff bis zu dessen Mörder, von den vier Kapitänen des Flüchtlingsschiffes bis zu dem Kommandanten des torpedierenden russischen U-Bootes S 13.
Am Anfang ist das etwas verwirrend, die zahlreichen realen Lebensgeschichten vermengen sich mit den erdachten. Tulla Pokriefke heißt Grass´ fiktive Hauptfigur. Sie ist keine Neuerfindung. Bereits in Katz und Maus und den Hundejahren taucht sie auf, in der Rättin wird ihr nachgesagt, sie sei mit der Gustloff untergegangen. Das stimmt nicht, wie wir nun erfahren, sie überlebt das Drama und mehr noch: Sie bringt gar am Unglückstag, auf hoher See und soeben dem Tode entronnen, an Bord des Begleitschiffes Löwe ein Kind zur Welt.
Durch Zeitzeugin Tulla als etwas anstrengende, konsequent im ostpreußischen Dialekt verharrende Identifikationsfigur gibt Grass dem Flüchtlingsdrama Gestalt. Sie war dabei. Sie hat mitbekommen, wie "aisig die See jewesen is" und wie die "Kinderchen alle koppunter" im Wasser trieben. Und sie kann das nicht vergessen.
Weil sie nicht schweigen kann, erzählt sie ihrem Enkel Konrad die Vergangenheit. Dass der daraufhin eine rechtsradikale Homepage ins Leben ruft, die, erreichbar unter www.blutzeuge.de, dem angeblichen Märtyrer Wilhelm Gustloff huldigt, ist nicht ihre Schuld. Immerhin tut der Junge etwas. Denn Paul, Tullas Sohn und Vater des vermissquiemten Konny, interessiert sich wenig für die Ereignisse. Zu oft hat er über sie reden hören, zu schwierig erscheint es ihm, irgendeine Stellung zu beziehen. Obwohl als Journalist tätig, verdrängt er das Flüchtlingsdrama. Erst als er das unschöne Tun seines Sohnes entdeckt, fühlt sich Paul persönlich so involviert, dass er die Erlebnisse seiner Mutter in einem Bericht festhalten kann: Im Krebsgang heißt der dann.
Der fast 75-jährige Grass hat wieder einmal ein großes Fass Geschichte geöffnet. Wieder einmal hat er sich als Themengeber erwiesen. Grass hat es nicht nötig, dem Zeitgeist zu huldigen, aber der Zeitgeist kommt ihm entgegen, schreibt Rudolf Augstein. Der Nobelpreisträger lasse sich als Tabubrecher feiern, bemängelt Walter Kempowski, der sich selbst schon in seinem Das Echolot mit der Tragödie beschäftigte.
Dass gerade Grass sich diesem Thema widmete, wird allgemein als Überraschung wahrgenommen. Andererseits kursiert die Ansicht, dass sich einem so belasteten Kapitel deutscher Geschichte nur eine Person zuwenden konnte, die in der Vergangenheit ihre politischen Ansichten ganz unmissverständlich heraus getrommelt hat.
Julika Pohle
Günter Grass: Im Krebsgang Steidl, Göttingen 2002, 216 S., 18,- EU