CHRONIKEN

100 Jahre Grass

Der letzte deutsche Polit-Schriftsteller erklärt uns das Jahrhundert

Zwischen den sanften, grün-zerflossenen Hügeln der aquarellierten Landschaft windet sich eine Straße in die Zukunft, ein roter Pfeil weist den Weg. Schon das von Günter Grass gemalte Titelbild seines nun bei dtv erschienenen Rückblickes Mein Jahrhundert lässt keinen Zweifel an der politischen Orientierung des Autors, die in den 100 Geschichten, die da erzählt werdcen, immer wieder zum Ausdruck kommt. In diesen Geschichten lässt Grass Menschen aus allen Schichten zu Wort kommen, von Hausfrau Berta, nach der die vom eigenen Mann im Akkord geschmiedete Dicke Berta benannt wurde, über den Genossen Liebknecht, der bestrebt ist, die Jugend zu agitieren, bis zur eigenen Mutter, die, früh verstorben und eigens für Mein Jahrhundert wieder auferstanden, im Jahr 1999 skeptisch in die Zukunft blickt und das Buch mit den Worten beschließt: Wenn nur nicht Krieg ist wieder ...
Mein Jahrhundert erschien 1999 im Steidl Verlag. Gleich zwei Ausgaben waren damals für die Fans des frischgebackenen Nobelpreisträgers für Literatur zu haben: Eine Textausgabe und eine prachtvollere, farbenfroh von Multitalent Grass illustrierte. Entsprechend sicher war der oberste Platz auf den Bestsellerlisten.
Die Grass'sche Erzählweise fordert Lob ebenso heraus wie Kritik. Das war schon immer so. Als 1959 Die Blechtrommel erschien, die in der Begründung für die Verleihung des Nobelpreises 1999 besonders hervorgehoben wurde, schwankten die Bezeichnungen für den jungen Autor zwischen Pornograph und Wunderkind. Grass' Ruf als Querdenker wurde damals begründet, der wie seine Figur Oskar Matzerath stets mit lautem Trommeln auf Missstände oder auch nur auf sich selbst aufmerksam machte.
Weil Grass mit Mein Jahrhundert wieder mal einen "großen Wurf" landen wollte, war eine gewisse Enttäuschung vorprogrammiert. Die Kritiken waren eher mau. Die Idee, ein Chronist vergessener Zusammenhänge zu sein, mutet tatsächlich ein wenig großväterlich an; zwar lassen wir uns in der großelterlichen Stube ganz gerne von einem Jahrhundert erzählen, in dem soviel passiert ist, die dauernden Belehrungen gehen aber auch dem geduldigsten Leser irgendwann auf die Nerven.
100 Geschichten, zu jedem Jahr des Jahrhunderts eine. Akribisch wird alles im Jahrhundert Gewesene aufgearbeitet. Eine subjektive Geschichte über Geschichte, wie sie von Grass selbst erlebt, erfahren, erhört und erlesen wurde, natürlich ist er erst seit seinem Geburtsjahr 1927 selbst dabei. Von da ab tritt er auch manchmal selbst ein in die lange Reihe der Protagonisten, etwa in dem Kapitel zum Jahr 1937, das den Spanischen Bürgerkrieg behandelt, der auf dem Pausenhof nachgespielt wird. Grass selbst ist dort eines der nach Heldentaten gierenden Kinder, damals noch nicht auf der Seite der Roten.
Viele Personen kommen zu Wort. Historische und erdacht, berühmte und vor allem einfache aus dem Volk. Die Trümmerfrau im Ziegelsplitt, der Journalist, der über Brandts Kniefall zu Warschau zu schreiben hat, der Sohn, der seinem Vater bei einer politischen Ansprache in den Nacken pisst, oder die Frau, deren alter Vater von heute auf morgen zum Punk geworden ist. Humor ist dabei, Ironie, Nachdenklichkeit. Und trotzdem bewegt Mein Jahrhundert nicht wirklich. Denn bei aller Bodenständigkeit ist das Werk distanziert, will pausenlos belehren, zusammenfassen, umfassend alles behandeln, will verarbeiten und von außen betrachten, von jeder Seite. Manchmal ist das zu viel.
Julika Pohle
Günter Grass: Mein Jahrhundert Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, 383 S., 19,50 DM