Wirtschaft Das Kapital 2.0 Das neue Standardwerk der politischen Ökonomie Der Anthropologe David Graeber wurde von der Yale University rausgeworfen, als er sich als Vordenker der Occupy-Bewegung einen Namen machte. Nun hat er ein dickes, fußnotenreiches und doch spannend zu lesendes Sachbuch geschrieben, das zugleich ganz einfach und ein bisschen optimistisch Schulden - Die ersten 5000 Jahre heißt. Der Wissenschaftler erzählt darin zum ersten Mal aus anthropologischer Sicht die Geschichte des menschlichen Wirtschaftens und überwirft sich dabei belesen und überzeugend mit der ganzen Branche der sogenannten Wirtschaftswissenschaftler. Schon dass die seit Adam Smith glauben, das Geld sei bloß als praktische Abkürzung des Tauschhandels erfunden worden, kann er glatt als Mythos entlarven. Umgekehrt befreit er den gemeinen Schuldner von der fesselnden Vorstellung, jeder müsse immer alles zurückzahlen, weil sonst der Himmel einstürze. Vielmehr sind geplatzte Kredite geradezu die Voraussetzung des normalen Bankenwesens, das Zinsen ja weitgehend als Risikoprämie nutzt. Das ist nur ein kleiner Witz als Vorbereitung eines großen Gedankens. Weil das menschliche Wirtschaften weit vor der Einführung von Geld mit Kreditsystemen und gegenseitiger Verpflichtung begann, war es von Anfang an auf die Macht angewiesen, die die Einhaltung der Verpflichtungen erzwingen konnte. Tatsächliche Macht und Unfreiheit, und nicht der theoretische freie Markt stehen am Beginn der Ökonomie. Und auch an ihrem Ende, heute, wo jeden Tag immer offensichtlicher wird, dass eben nicht jeder seine Schulden zurückzahlen muss. Banken und Staaten nehmen sich heraus, was dem einfachen Kreditnehmer verboten ist. Zur gegenwärtigen Schuldenkrise sagt Graeber nichts direkt, er redet lieber über das alte Mesopotamien, China, Sex-Rituale in Afrika, die Warenbewegungen sozial absicherten, oder die englischen Banken zur Shakespeare-Zeit, die mit Kerbhölzern abrechneten. Und er findet Hunderte von Beiseite-Ideen, mit denen man auf jeder Steh-Party brillieren kann. Etwa dass Der Zauberer von Oz ein Märchen über eine Alternativ-Ökonomie ist, die verarmte Farmer (Vogelscheuche) und Industriearbeiter (Blechmann) vor der Ausbeutung durch die Geldwirtschaft (Oz. ist die Abkürzung für die "Unze" Gold) in der dollargrünen Smaragdstadt retten wollte. Im Kern geht es Graeber darum, eine "menschliche Ökonomie" des Austauschs von Verpflichtungen in wirklichen Gemeinschaften zu unterscheiden von der "monetären", die erstens die historischen Wahrheiten verkennt, und zweitens ihre machtpolitische Basis hinter falschen Moralansprüchen versteckt. Der Kapitalismus, der das alles nicht erkennt, wird in der nächsten Zeit wohl wieder in eine Schuldenfalle stolpern, wie schon mehrfach zuvor. Die völkerkundliche Analyse zeigt, dass nur eine radikale Entschuldung dagegen hilft. Nur vielleicht diesmal nicht nur der Banken und Staaten, sondern der Menschen. Wing
David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer. Klett Cotta, Stuttgart 2012. 536 S., 26.95
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