LEGENDEN

Golems Liebe

Frances Sherwoods »Die Schneiderin von Prag«

Historische Romane sind immer "erfunden", immer vom jeweiligen "heute" her, und wenn sie gut sind, zeigen sie das "kontrafaktische", den Widerspruch zur echten Geschichte. Frau Sherwood tut das. Einerseits, in dem sie äußerst witzig bis zu den nicht wirklich überlieferten Verdauungsproblemen Kaiser Rudolfs von Habsburg 1601 am Hof von Prag vordringt. Andererseits durch ein beinahe glaubwürdiges Ensemble "echter" Figuren der Zeit: ein griechischer Arzt, ein englischer Magier (der übrigens wirklich das 007-Kürzel für Geheimdienst-Aktivitäten erfand), ein jüdischer Rabbi (Löw, natürlich), ein ungarischer Adliger (Vlad Dracul, der Namensgeber der Dracula-Legende) ... sie hätten sich womöglich wirklich treffen können.
Historische Romane leiden immer unter ihren nicht erfundenen Teilen. Im Sherwood-Fall unter langen Auflistungen jüdischer Bräuche. Oder der Mystik der Kabbala. Die Autorin müht sich sehr, ihre penibel recherchierten Informationen in die Handlung einzubinden (ein Nachwort erklärt, was stimmt, und was nicht), und sie müht sich etwas zu sehr mit der Liebesgeschichte, die ihre vielen Fakten zusammenhalten muss. Rabbi Löw baut den Golem, einen tumben Riesen aus Lehm, um die Prager Juden gegen antisemitische Angriffe zu verteidigen, die Schneiderin des Titels verliebt sich in den unreinen Tor, weil sie mit dem Kunstprodukt aus der Tradition auszubrechen hofft.
Das scheitert, wie die Legende lehrt. Aber das schadet dem Buch nicht. Über den Anfang des 17. Jahrhunderts in Prag gibt es nichts besseres; über das verschrobene Geistesleben am Anfang richtiger Wissenschaft, wo die Alchimie noch galt, der Papst aber schon fast nichts mehr. Für Interessenten an der Vorgeschichte richtiger Wissenschaft liefert Frances Sherwood wunderlich plastische Porträts des versoffenen Astronomen Tycho Brahe und seines Nerds Johannes Kepler. Ein Fest für jeden, der etwa Tanja Kinkel niemals anfassen würde.
Bei allem Bemühen, uns Heutigen das Seelenleben damals verständlich zu machen, und bei jeder Handlungskurve, die damalige Charaktere fast modern agieren lässt, bleibt Frances Sherwood in ihrer erfundenen Zeit und in der Metamoderne zugleich (und steht gut und sicher auf den Schultern von Lion Feuchtwanger). Das Liebespaar kriegt sich nicht. Der Golem stirbt. Die Juden werden verfolgt. Die Schneiderin von Prag bleibt bei ihrem Ehemann, lernt aber Fremdsprachen.
WING
Frances Sherwood: Die Schneiderin von Prag oder Das Buch des Glanzes. Aus dem amerikanischen Englischen von Miriam Carbe. Europa Verlag, Hamburg 2003, 416 S., 19,90 ISBN: 3203820404