URZEIT

Der milde Wilde

Sibylle Knauss klont sich einen Vorfahren

Neue Forschungen haben festgestellt, dass der moderne Mensch ein bisschen auch vom Neandertaler abstammt. Auf dem langen Weg aus Afrika paarten sich frühe Mitglieder der Familie Sapiens mit den Ureinwohnern, die sie unterwegs trafen, wollten aber später nichts mehr mit der etwas tumben, zotteligen Verwandtschaft zu tun haben. Mit dem Ende der Eiszeit starben die Neandertaler in ganz Europa aus und der Homo Sapiens erfindet sich seitdem den verdrängten Eingeborenen immer wieder neu als Zerrbild, als überwundenes Stadium, als vertane Chance, als Gegenmodell ohne Glück. Sibylle Knauss denkt sich nun ein gentechnisches Experiment aus, bei dem eine menschliche Leihmutter mit Neandertaler-DNS künstlich befruchtet wird, und, plötzlich von Hormonen und Visionen übermannt, die geplante Abtreibung absagt. Warum Mutter Maria, Anthropologin und an Genetik nur interessiert, weil sie sich in den Professor verliebte, überhaupt einwilligte, bleibt unklar. Schließlich kann die Nachzucht eines Neandertalers, wäre sie möglich, Naturwissenschaftlern vieles, Kulturwissenschaftlern aber nichts beibringen.

Außer im Roman. Schon der Fötus scheint magisch telepathisch mit Maria zu kommunizieren, und als sie mit einem Wohnmobil in die Karpaten flieht, um ihr Kind einsam am Rand der Welt zu kriegen, wird das Erbe plötzlich übermächtiger als die Erziehung. Das neue uralte Balg ist abgrundtief hässlich (das sehen die meisten Neandertaler-Forscher heute anders), riecht komisch (das könnte stimmen), wird trotzdem von seiner Mutter sehr geliebt und spielt schon in der Wiege arglos mit Wölfen. Wohl weil er ein Naturbursche ist und besser zur Wildnis passt als wir. Später wird Maria noch deutlicher. Ihm fehle die Gier, stellt sie fest, als der Junge arglos Hühner jagt und verspeist, aber immer nur gerade genug für den Hunger. Die heutigen Menschen sind dagegen eher Ekel. Betrunkene Männer rütteln am Wohnmobil, weil sie die Frau darin wollen. Jugendamts-Schergen wollen das Kind beschlagnahmen, ruhmsüchtige Wissenschaftler ihn zum Touristenführer in ihrem NeandertalerMuseum machen.

Hier wird das lange sehr vorsichtige, naturbeschauliche Buch fast rasant. Und die Eigenart der Autorin, alle Doppelpunkte und Anführungszeichen wegzulassen, verschmilzt Rede, Gedanken und Beschreibung zu einem bedenklichen Kontinuum aller möglichen Reaktionen auf das Fremde an sich und unter uns. Glaubwürdigkeitsfragen stellen sich da längst nicht mehr. Der Sohn, der sein eigener Vater ist, befreit sich von der Menschheit, die ihn vor Äonen schon sitzen ließ, und wir bleiben ein bisschen traurig sitzen in einem Erlebnispark mit einer Eiszeit aus Plastik und Pappmache. Sibylle Knaus schreibt sich stellenweise etwas zu sehr an moderne Öko-Esoterik heran und schlägt die Wiedergeburt des Vorläufers als Chance zur Abkehr von der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen vor. Mütter, die ihren eigenen Urgroßvetter geboren haben, dürfen so denken.

Wing
Sibylle Knauss: Fremdling. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012, 384 S., 22,99