LIEBESWAHN

Sieg der Norm

Der satirische Roman »Die allertraurigste Geschichte«

Ein Roman, der von der unablässigen Brechung seiner Geschichte lebt - formal und inhaltlich - läßt sich nicht nacherzählen. Versuchen wir's gar nicht. Sagen wir einfach: es geht um Liebe.
Als die geliebte Frau endlich tot ist, die der Ich-Erzähler 11 Jahre lang gepflegt hat, fallen ihm folgende Sätze dazu ein: "Es war, als wäre ein unendlich schwerer Rucksack - ein unterträglich schwerer Rucksack, der mit Riemen an meinen Schultern hing, von mir abgefallen, und die Schultern, in die die Riemen eingeschnitten hatten, waren taub und ohne Gefühl geblieben."
Das ist einerseits anrührend, andererseits ziemlich platt. Die tote Frau gleichnishaft als Last abzulegen, ist beinahe geschmacklos. Der geschilderte "Phantomschmerz" beinahe poetisch. Und wer glaubt, das sei Zufall, hat Die allertraurigste Geschichte nicht gelesen, denn in diesem formalen Meisterwerk ist nichts zufällig, ohne Berechnung. Was anfängt wie ein stinklangweiliger Gesellschaftsroman - zwei Paare treffen sich regelmäßig zu Kuraufenthalten in Europa - endet im heißen Wahnsinn entfesselter Leidenschaften: eine Klosterschülerin steht nachts am Bett eines 20 Jahre älteren Mannes und bietet ihm an, ihm "anzugehören", um sein Leben zu retten. "Es war ein phantastisches Schauspiel der Grausamkeiten. Sie wußte nicht im Geringsten, was es bedeutet, einem Mann anzugehören." Die Verstrickungen und Lügen kommen nach und nach ans Licht. Der Erzähler berichtet zwar rückblickend, aber er springt in den Jahren vor und zurück, was den Wahnsinn der Geschichte verstärkt, denn manche Szene wird wiederholt, die wir bereits zu kennen glaubten, aber erst nach und nach erfahren wir, was die beteiligten Personen zu diesem Zeitpunkt über einander wußten.
Während die Figuren um den Erzähler herum in Liebe, Triebe und Herrschsucht versinken, ist ausgerechnet der Erzähler selbst - ein Gimpel, ein Mann bar jeder Leidenschaft, dem wir am Ende manches Kapitels entgegenrufen möchten: Nein, so kann es nicht gewesen sein! - das ist vielleicht die größte Kunst Fords, dass sein Buch unter dieser Last - ein tumber Autor erzählt eine komplizierte Geschichte - nicht zusammenbricht, sondern vielmehr so einen Großteil seiner Komik erzielt. Die allertraurigste Geschichte ist ein komischer, böser, zynischer Roman. Er läßt am Ende die Normalität siegen, der Autor preist sie in hohen Tönen. Und wir haben gelernt: nichts ist langweiliger und berohlicher als diese Normalität, als dieser Sieg des Durchschnittlichen.
Der Engländer Ford Madox Ford hat, zusammen mit Joseph Conrad, viel über die Form des Romans nachgedacht. Beide haben die Strukturen des modernen französischen Romans geschätzt und weiterentwickelt. Während Conrad mit seinen Romane Erfolg hatte, führte Ford ein eher rastloses Leben als Autor, Journalist, Herausgeber einer literarischen Zeitung und Vortragskünstler. Er starb, verarmt und vergessen, 1939 in Frankreich Die Andere Bibliothek hat Die allertraurigste Geschichte in gewohnt beeindruckender Ausstattung herausgebracht. Es gibt ein kluges Nachwort, einen erklärenden Brief des Autors und eine längere biografische Notiz. Wer ein Herz für Romane hat, sollte das lesen.
Alex Coutts
Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze. Eichborn, Frankfurt 2000, 347 S., 49,50 DM