FLIEHKRÄFTE
Global mobil Immer unterwegs: Touristen und Flüchtlinge Es liest sich wie ein zynisches Gedankenspiel gelangweilter Soziologen: Zwei Theoretiker der Popkultur (Mainstream der Minderheiten) vergleichen Touristen und Flüchtlinge. Immerhin teilen sich gestrandete Afrikaner und gestresste Pauschaltouristen auf den Kanaren die gleichen Strände. Auch in den Hotels und Restaurants der Urlaubsorte kreuzen sich ihre Wege. Der eine sucht als Tagelöhner ein Auskommen, der andere als Gast Erholung. So flapsig sich das liest, die Autoren nehmen beide Gruppen ernst. Sie bereisen alte Sklavenrouten, die Nordafrika mit Südeuropa verbinden und heute noch von Schleusern genutzt werden. Deren Dienstleistungen sind mit gefälschten Visa und Hotelbuchungen ähnlich professionell wie die echter Reisebüros. Zynisch sind Politiker wie Ex-Bundesinnenminister Otto Schily, der libysche Auffanglager als Begrüßungszentren bezeichnete. Oder Lampedusas Bürgermeister, der Flüchtlingszentren Konzentrationslager nennt und sich um den Tourismus auf seiner Insel sorgt. Apropos: Die Nazis waren Pioniere des Massentourismus, wie der Besuch eines NS-Seebades auf Rügen zeigt. Hier sollte billige Erholung die politisch entmündigten Arbeiter bei Laune halten - mit besten Grüßen vom Ferienwerk "Kraft durch Freude". Der spanische Stadtsoziologe Iribas lobt im Interview den viel geschmähten Billigtourismus. Die fröhliche Vermassung in Hoteltürmen sei privatistischen Ferienhaus-Siedlungen unbedingt vorzuziehen. Deren Hauseigentümer langweilen sich nämlich im Dauerurlaub ohne Vergangenheit und Zukunft regelrecht zu Tode. Mit Besorgnis sehen Holert und Terkessidis einen Trend, der auch die Metropolen einholt. So verwandele die Eventkultur mit ihren Stadt-Stränden und Museums-Nächten öffentlichen Raum in reine Konsumzonen, Innenstädte in Shopping-Meilen. Im Zuge der Festivalisierung werden Großstädter zu konsumierenden Touristen in der eigenen Stadt. Alles, was an realem Leben stören könnte, wird in die Vorstadt-Ghettos ausgelagert. Die Ex-Spex-Redakteure machen es dem Leser mit ihrer Soziologen-Sprache nicht leicht. Dafür überzeugt der Vergleich zweier Wanderbewegungen mit aufwendigen Recherchen an ungewöhnlichen Orten. Ihr frustrierendes Fazit: Im Neoliberalismus sind wir alle nur noch Reisende. Frank Krings
Tom Holert / Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung . Von Migranten und Touristen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 285 S., 8,95 ISBN: 3462037439 |