KALTE KRIEGER
DIE WOLLEN NUR SPIELEN
Das Belügen der Öffentlichkeit hat bei der NATO eine lange Tradition
In dem Film Dr. Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben sitzt der US-Präsident mit seinem Kriegskabinett im Bunker und erlebt gerade den Untergang der Welt. Allein Dr. Seltsam spendet Trost mit dem Plan, sich für 100 Jahre im Bunker zu verkriechen, sich dort fleißig zu vermehren und anschließend endlich die verdiente Weltherrschaft zu übernehmen. Dr. Seltsam kam 1964 ins Kino und gilt als Satire.
"FALLEX 66"
1966 lud die NATO zur Stabsübung "Fallex 66". In einer Stabsübung werden Entscheidungswege überprüft, Szenarien durchgespielt, ohne dass auch nur 1 Soldat dafür durch den Schlamm robben muß. Für diese Stabsübung zog eine Ersatzbundesregierung samt Notparlament (mit echten Abgeordneten) für 5 Tage in den Regierungsbunker Ahrweiler und traf fortan Entscheidungen.
"Fallex 66" bestand aus drei Teilen (TOP GEAR, JOLLY ROGER und FULL MOON), die als Szenario von der NATO vorgegeben waren. In TOP GEAR wurde der Angriff Österreichs durch Truppen des Warschauer Paktes angenommen. Bevor das Kriegskabinett im Bunker überhaupt weiß, wo der Feind steht, werden Norwegen, die Türkei, Griechenland und schließlich die BRD angegriffen.
Vor allem die BRD steht vor dem Chaos: Flüchtlingsströme blockieren die Straßen, ein Sabotageakt im KKW Karlsruhe läßt das Atomkraftwerk hochgehen, es kommt zu ersten Bandenbildungen im Teutoburger Wald (ernsthaft!), der Zivilschutz ist praktisch nicht vorhanden. Man beschließt den Einsatz von Atom-Luftabwehrraketen auf bundesdeutschem Boden (und nur da!), aber bevor es dazu kommt, zieht der böse Feind sich wieder zurück und bietet Verhandlungen an, der erste Teil der Übung ist beendet, das Ersatz-Kabinett und die Parlamentarierer des Not-Parlaments gehen nach Hause. Kurze Zeit später werden in Deutschland von CDU/CSU und SPD die Notstandsgesetze beschlossen, die der Regierung in Kriegszeiten enorme Freiheiten einräumen.
DAS ANDERE ENDE
Der FDP-Abegordnete Wolfram Dorn nahm damals an "Fallex 66" teil. Er hatte im Bunker als einziger gegen den Einsatz von Atomwaffen gestimmt. Eher zufällig erfuhr er - schon damals - dass der erste Teil von "Fallex 66" nicht so endete, wie es ihm gesagt worden war: das tatsächliche, von der NATO entwickelte Ende sah den Zusammenbruch der zivilen und militärischen Verteidigung in Deutschland vor, trotz des Einsatzes von Atomwaffen. Dieses Ende wurde den Abeordneten verschwiegen.
Seit dem 1. Januar 2000 sind die wichtigen Dokumente zu "Fallex 66" nicht mehr geheim. In dem Buch So heiß war der Kalte Krieg - Fallex 66 erzählt Wolfram Dorn, was es mit "Fallex 66" tatsächlich auf sich hatte.
DER BESTELLTE KRIEG
Das Szenario samt Ausgang war nämlich von der Bundesregierung beim NATO-Rat bestellt worden. General Schindler vom Verteidigungsministerium meldete am 7. Oktober 66 an die Regierung: "TOP GEAR entspricht jetzt unseren Wünschen und bringt das, was wir fortgesetzt gefordert haben: es muß ein Erfolg der Abschreckung sichtbar werden, die Übung darf nicht im Chaos enden, sie bringt ein Einlenken des Angreifers in Verhandlungen".
TOP GEAR war also eine Pleite: Es sollte vor allem das Parlament davon überzeugen, wie notwendig die Notstandsgesetze seien und hatte doch letztlich bewiesen, dass trotzdem alles den Bach runtergegangen wäre.
Noch lustiger war der zweite Teil von "Fallex 66", bei dem die deutschen Abgeordneten nicht mal zugucken durften. Angenommen wurde ein nuklearer Schlagabtausch zwischen NATO und Warschauer Pakt. Das Ende des Szenarios, so Dorn: "Alle militärischen und zivilen Einrichtungen in der Bundesrepublik sind total zerstört. Die Verluste der Zivilbevölkerung und unter den Soldaten sind noch nicht absehbar." Mit anderen Worten: Laut NATO-Planung in den 60ern endete ein nuklearer Konflikt in Europa damit, dass man Deutschland anschließend bestenfalls als Parkplatz vermieten konnte. Die Friedensbewegung hat in den 70ern und frühen 80ern genau dieses Ende immer wieder vorgerechnet, sowohl die SPD-Regierung Schmidt als auch die CDU-Regierung Kohl haben das immer wieder als "Panikmache" abgetan.
BITTE KEINE PRESSE
Dass die NATO wußte, wie beunruhigend solch ein Szenario wirken muß, beweist auch ein "NATO geheim"-gestempeltes Papier vom 14. September 1966, wo der NATO-Militärausschuß zu "Fallex 66" mitteilt:
Es sollte nicht versucht werden, die Aufmerksamkeit der Presse auf diese Übung zu lenken. Die etwaigen Einzelheiten der Übung, die weder einen geheimen Charakter tragen noch von überragender Bedeutung sind, sollen nur in dem notwendigen Umfang hervorgehoben werden, um die Aufmerksamkeit von den wesentlichen Aspekten abzulenken, insbesondere von den Teilen der Übung, die den Einsatz nuklearer Waffen betreffen. Es soll der Presse nicht bekannt werden, dass der NATO-Rat und die nationalen politischen Behörden an der Übung beteiligt sind, und es ist mit allen erdenklichen Maßnahmen zu verhindern, dass dies der Öffentlichkeit bekannt wird.
FULL MOON, der dritte Teil von "Fallex 66", geht von einer im Atomkrieg versunkenen Welt aus. Das Szenario sagt: "Keine weitere militärische Operation ist geplant, und der militärische logistische Übungsteil beschränkt sich auf die Neuaufstellung der überlebenden Streitkräfte." 35 Jahre danach, das sieht FULL MOON vor, sollte die NATO übungsweise mal schauen, was schon wieder geht.
Wolfram Dorn schreibt: "Bei der Information der Öffentlichkeit während des Kosovo-Krieges hatte ich den Eindruck, dass sich in den letzten 40 Jahren fast nichts geändert hat."
Vor ein paar Monaten hat ein Trottel der US-Regierung offiziell verlauten lassen, man werde im "Krieg gegen den Terror" auch hin und wieder die eigene Öffentlichkeit belügen. Nach einer kurzen, heftigen Empörungswelle versicherte die US-Regierung, das sei ein Mißverständnis, man werde, natürlich, wie immer die Wahrheit sagen. Man darf annehmen, dass die zweite Aussage durch die erste gedeckt ist.
Erich Sauer
Wolfram Dorn: So heiß war der Kalte Krieg - Fallex 66 Dittrich, Köln 2002, 185 S., 19,80 EU
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