Wahrheit

Faktenleben

Ein Journalist und ein Rechercheur streiten sich über Fliegenbeine

Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Sagte Ludwig Wittgenstein und meinte damit lax "Das kurze Leben der Fakten" interessiert sich trotzdem für jedes Reiskorn, für die genaue Uhrzeit und für das Wetter am Tag des Unfalls. Jim Fingal ist Praktikant beim Literaturmagazin The Believer und hat die Aufgabe, einen Artikel von John ŽDŽAgata zu checken. DŽAgata schrieb über einen 16jährigen, der am 13. Juli 2002 vom Stratosphere Tower in Las Vegas sprang. Spannend erzählte er vom heißesten Tag des Sommers, vom Verkehrsstau vor dem Eingang, vom Asphalt der Stadt, auf dem der Junge aufschlug, und dass Passanten noch tagelang munkelten, man habe Körperteile überall in den Grünanlagen gefunden.

Jim und John stritten sich in der Folge über jede Zeile des Essays. Jim maß jede Zahlenangabe nach, fand kleine und große Unstimmigkeiten und John raufte sich die Haare, wenn der Pedant ihm ein schönes Bild kaputt machen wollte. 60 Autos seien kein Stau in Las Vegas. Der heißeste Tag sei eine Woche vorher gewesen, und das Büro für labile Jugendliche, dessen Chefin der Autor zitiere, gebe es gar nicht.

Sieben Jahre lang beharkten sich die beiden mit besserwisserischem Faktengehube hier und poetischem Realismus dort. Der Literat fühlte sich unzulässig eingeschränkt in seinem Bemühen, plausibel zu machen, warum die Selbstmordrate in Las Vegas höher ist als irgendwo anders. Der Dokumentar wollte seinerseits nicht verstehen, warum es der höheren Wahrheit dienen soll, wenn aus einem lila Lieferwagen einer in Pink wird. Und wenn der Autor schreibt, er sei nach Las Vegas gekommen, um seiner kranken Mutter zu helfen, will der Dokumentar tatsächlich bei der anrufen, um sich das bestätigen zu lassen.

Der Konflikt ist beileibe nicht nur lustig. Rund um den Originaltext des Artikels von DŽAgata sind Fingals Einwände und Verbesserungsvorschläge, Gegenvorschläge sowie DŽAgatas meist schroffe Reaktionen abgedruckt, in Signalrot, wenn es nicht zu einer Einigung kam. So entsteht die kritische Ausgabe eines Stückchens der Welt, die der 16jährige Levi Presley im Juli 2003 verließ, und niemand weiß bis heute, warum.

Wing

John D'Agata, Jim Fingal: Das kurze Leben der Fakten. Übersetzt von Andreas Wirthensohn. Hanser München 2013, 173 S. 19,90