VERSCHWÖRUNGEN

Überall Löcher

Warum mußte die »Estonia« versinken?

Der Untergang der estnischen Fähre "Estonia" am 28.9.1994 ist rätselhaft. Das Schiff versank zu schnell, die Rettung der Passagiere begann zu spät, die Untersuchungen des Unglücks wurden durch Intrigen der beteiligten Länder gestört. Eine von Schweden, Finnland und Estland eingesetzte Untersuchungskommission legte einen Bericht vor, der die meisten Rätsel nicht löste und dafür ein paar neue dazupackte. Soweit sich der Untergang, irgendwann nachts um 1 in der eiskalten Ostssee, aus Zeugenaussagen und späteren Tauchgängen rekonstruieren läßt, kann es kaum so gewesen sein, wie der offizielle Bericht behauptet.
Das hat man schon mal im Leben, dass die Fakten widersprüchlich sind. Aber wenn so vieles nicht zusammenpaßt, ist es Zeit für eine Veschwörungstheorie. Die Journalistin Jutta Rabe hat von Anfang an für SPIEGEL TV über den Untergang berichtet, in diversen TV-Dokumentationen hat sie die Ereignisse dargestellt, hat selbst eine Tauchexpedition zum Wrack der "Estonia" geführt und faßt jetzt, nach dem der SPIEGEL sich von ihr getrennt hat, ihre Recherchen in einem Buch zusammen, das im Bielefelder Delius Klasing Verlag erschien, ein Haus, das sonst eher auf die "schönsten Segelschiffe der Welt" und Krimis im Einhandsegler-Milieu spezialisiert ist.
Frau Rabe hat in ihrer Rekonstruktion zwar Fakten und Spekulation säuberlich getrennt, trotzdem gründen sich ihre Verdachtsmomente auf beides, auf harte Fakten und Gerüchte.
Es gibt Löcher im Wrack der "Estonia", die da nicht sein dürften. Es gibt Unterlagen im Bericht der Kommission, die nachweislich falsch sind. Es gibt unterschlagene Beweise, schlampige Zeugenbefragungen und sieben verschwundene Überlebende. Es gibt den seltsamen Beschluss Schwedens, das Schiff nicht zu bergen und unter Beton zu vergraben. Das sind Fakten.
In einem Nebensatz taucht auf, dass es ein Video vom Wrack geben soll, auf dem der - offiziell nie entdeckte - Kapitän der "Estonia" auf der Brücke zu sehen ist, mit einem Kopfschuß - dafür hat auch Frau Rabe keine Erklärung, sie erwähnt es einfach.
Es gab, nachgewiesener Maßen, eine Bombendrohung gegen das Schiff am Tag der Abfahrt. Als auf einem Tauch-Video ein seltsames Paket zu sehen ist, wollen Frau Rabe und ein von ihr bestellter Experte darin deutlich Plastiksprengstoff erkennen.
Ein von Jutta Rabe organisiertes Tauchteam stellt sich derart dilettantisch an, dass, leider leider, keine harten Beweise an die Oberfläche gelangen. Dass die Rettung der Passagiere auch daran scheiterte, weil im gesamten Bereich Finnland-Schweden der Funkverkehr gestört war, ist eine Tatsache. Dass die Russen Stunden nach dem Untergang ihre Hilfe anboten, weil zwei russische Passagiere an Bord gewesen sein, ist mindestens verdächtig, denn eine Passagierliste lag zu diesem Zeitpunkt gar nicht vor. Daraus aber den Verdacht zu zwirbeln, die Russen steckten hinter dem Untergang, ist zumindest gewagt. Frau Rabe hat da eine Theorie über Waffenkäufe, Weltraumtechnik, Mafia und Schutzgelder. Dass auch Frau Rabes Erklärungsversuch nicht alle von ihr präsentierten Fakten und Vermutungen abdeckt, versteht sich von selbst.
Ein bißchen liest sich das wie das wilde Zeug, das Erich von Däniken schreibt: die Fragen sind ziemlich gut. Die Antworten leider nicht.
Erich Sauer
Jutta Rabe: Die Estonia. Tragödie eines Schiffsuntergangs Delius Klasing, Bielfeld 2002, 260 S., 22,90 EU ISBN: 3768812677