ESSAYS

Das Grosse denken

Kosmos, Tütensuppen und Orgasmen

»Ich war aktiv und produktiv. Der Gedanke, dass ich drauf und dran war zu sterben, kam mir wie ein grotesker Witz vor.« (Carl Sagan, 1996, 2 Monate vor seinem Tod)
Die Aufgabe eines Intellektuellen ist es nicht, Heiligenscheine zu verteilen, sondern Einwände zu erheben. Sagt Josef Haslinger (der Autor von "Opernball" und "Das Vaterspiel") in seiner Essay-Sammlung Klasse Burschen, in der er sich mit der österreichischen Gegenwart und Nazi-Vergangenheit auseinandersetzt, mit dem "Bild eines Landes, das mir von Tag zu Tag widerlicher wird". Er schreibt über Haider und Briefbomben, über einen Beethoven-Festakt im KZ Mauthausen, über den St. Patricks Day in New York (und wie er in der Parade der New Yorker Polizei erst lauter Iren sieht, und dann plötzlich ein schwarzes Gesicht entdeckt, noch eins, und sich dann beschwingt ein grünes Kleeblatt kauft) - das zentrale Thema ist Rassenhass und wie er von Politikern geschürt wird. Haslinger hat einen wunderbar ernst-ironischen Tonfall. Der Aufsatz etwa, in dem er Harry Mulisch zum Österreicher macht und den Zusammenhang erklärt, wie man gleichzeitig (den Österreicher) Eichmann und den Dichter Handcke den Deutschen andrehen kann, ist sowohl komisch als auch tottraurig. Und was er zum Kosovo sagt ist klug und widersprüchlich und gerade deshalb sehr klug. Und überhaupt ist es mal Zeit, nach all der Piefke-Essayerei à la Schneider, Enzensberger und SPIEGEL-Mohr einen Österreicher zu Wort kommen zu lassen. Weil, so sieht das auch Haslinger, Österreich irgendwie das schlimmere Deutschland ist: mental nicht ganz dabei und doch immer vorne weg.
Auch das noch: Wiglaf Droste wird altersmilde! Zwar hat er immer noch seine Lieblingsfeinde - Wolf Biermann, Wolfgang Niedecken, Rudolf Scharping, Josef Fischer - und wird auch nicht müde, ihnen alles Schlechte zu wünschen. Aber er macht das nicht mehr hauptberuflich. Nur noch im Nebensatz wird die Welt gegeißelt, Drostes Mainstream folgt inzwischen mehr der genußsüchtigen Linie. Die Rolle der Frau enthält Texte über schöne Frauen, Tütensoßen, fettiges Essen, die Gnade der Trunksucht und das Glück, mit dem Zug durch Deutschland zu fahren: "Wenn man mit dem Speisewagen hindurchfährt, ist Deutschland schön. Man darf bloß nicht den Fehler machen und aussteigen." Um im Bild zu bleiben: Droste steigt nicht mehr bei jeder Station aus, um seine Mischung aus Kant, Kotzen und Kalauer loszuwerden. Der knubbelige Witzbold hat inzwischen erkannt - Männern ab 40 passiert das - wie schön das Leben sein kann. Droste ist einfach älter geworden. Da stehen dann schon mal Klugheit und Gelassenheit ins Haus. Kleine Explosionen hat er allerdings immer noch drauf, wenn er etwa anläßlich eines Dylan-Konzertes auf die deutsche Unart, jeden erkennbaren Rhythmus händeklatschend zu begleiten, die schöne Antwort gibt: "Was das Mitklatschen in Konzerten angeht, gibt es eine gute alte Regel: Islam her, Hände ab." Nur von der Lyrik - die wenigen Beispiele beweisen es - sollte er die Finger lassen. Aber das lernt er vielleicht auch noch.
Wir haben Georg Seeßlen schon für einen selbstverliebten Quasselkopp gehalten, als der Rest des linken Feuilletons noch auf den Knien lag und einmal die Woche die Gedanken des Meisters nachdruckte. Jetzt hat Seeßlen mal wieder eine paar Essays zwischen Buchdeckel verpackt, Orgasmus und Alltag - Kreuz- und Querzüge durch den medialen Mainstream drübergeschrieben, und nur uns ist auf Seite 10 folgendes aufgefallen: "Gäbe es das Schreiben vom Fan-Standpunkt aus nicht, so wüßte bis heute wohl die Mainstream-Kultur nichts von den literarischen Fähigkeiten eines Dashiell Hammett oder eines Philip K. Dick, nichts von der satirischen Tiefe der Donald-Duck-Comics von Carl Barx ..." - Hammett wurde von schon von Raymond Chandler gelobt, Dick von Stanislaw Lem, na ja, und Carl Barks - der schreibt sich einfach anders. Aber sonst, Seeßlen, war fast alles richtig. Wie immer.
Der Astronom, Publizist, Aufklärer und Aktivist Carl Sagan ist 1996 nach langer, qualvoller Krankheit gestorben. Sein letztes Buch Gott und der tropfende Wasserhahn ist ein schönes Kompendium der Themen, die Sagan am Herzen lagen. Er hat sich mit Abtreibungsgegnern geprügelt, für die NASA eine Schallplatte in den Weltraum geschickt, vor Ozonloch, Treibhauseffekt und Atomenergie gewarnt. Er hat fürs Fernsehen die Kosmologie verständlich gemacht, er erklärte uns, wie viele Nullen 10 hoch 12 hat (und dass man 32.000 Jahre brauchen würde, um alle Zahlen darin aufzusagen), was ein wissenschaftlicher Beweis ist und wie man unsichtbare Drachen aus einer Garage herausargumentiert. Er hat uns Axelrods Gefangenen-Dilemma erklärt, und wenn er auf ein Aquarium mit Garnelen blickt, verstehen wir plötzlich, wie schwierig es ist, Gott zu sein. (Für Sagan sprechen sogar die Themen, die er ignorierte: die ganze Aufregung um die inzwischen mausetote "Chaos-Theorie" ist völlig an ihm vorbeigegangen). All diese Themen findet man hier noch einmal versammelt, immer noch mit Humor und Engagement vorgetragen. Und während man das liest, kommt einem unwillkürlich der Gedanke: Gut, dass Sagan Bush nicht mehr erleben mußte. Die neue US-Politik propagiert genau jenen dumpfen Profitfundamentalismus, der Sagans Meinung nach eines Tages den Weltuntergang herbeiführen wird.
Thomas Friedrich
Josef Haslinger: Klasse Burschen S. Fischer, Frankfurt 2001, 221 S., 34,- DM
Wiglaf Droste: Die Rolle der Frau und andere Lichtblicke Edition Tiamat, Verlag Klaus Bittermann, Berlin 2001, 215 S., 28,- DM
Georg Seeßlen : Orgasmus und Alltag - Kreuz- und Querzüge durch den medialen Mainstream konkret texte 28, KKV Konkret, Hamburg 2000, 167 S., 22,80 DM
Carl Sagan: Gott und der tropfende Wasserhahn Aus dem Amerikanischen von Michael Schmidt. Droemer, München 2001, 316 S., 44,90 DM