WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Raum & Zeit
Peter Galison trifft Genies auf dem Bahnsteig
Die populäre Sage will, dass Albert Einstein so vor etwa 100 Jahren mal einen Genie-Blitz hatte und sich irgend etwas schwer Philosophisches über die Relativität von allem und jedem ausdachte, woraus später die Atombombe wurde. Peter Galison, renommierter Wissenschaftsgeschichtler, dreht Onkel Albert nun vom Kopf auf die Füsse: weil der junge Mann auf dem Weg ins Büro jeden Morgen an den brandneuen elektrisch gekoppelten öffentlichen Uhren in Bern vorbeikam, lag der Gedanke nahe, dass "jetzt" gar nichts bedeutet, wenn man nicht dazu sagt, an welcher Strassenecke man gerade ist. Oder noch plastischer: es gab böse Eisenbahnzusammenstöße, weil verschiedene Fahrpläne noch nach unterschiedlichen Uhren gingen, fünf allein in Deutschland, Dutzende in Europa. Offensichtlich musste man sich auf eine gemeinsame Zeit einigen - und etwas weniger offensichtlich war das eine philosophische Revolution. Es gab keine "absolute Zeit" mehr hinter unterschiedlich abweichenden "Lokalzeiten", sondern jede Zeit war grundsätzlich vom Betrachter abhängig, erst recht die auf vielen politischen Konferenzen mühsam hingebogene "Gemeinzeit".
Anders herum holt Peter Galison den französischen Mathematiker Henri Poincaré aus der Tiefe des Raumes, der jahrelang ganz praktisch an Landkarten arbeitete, an Übersee-Telegrafenkabeln und an der weltweiten Konvention darüber, wo und wann ein neuer Tag anfängt. Damit wurde er, sagt Galison, eine Art Großvater der Relativitätstheorie. Auch der Raum wurde nicht trotz sondern wegen immer präziserer Messungen grundsätzlich ein Verhandlungsgegenstand. Hinter dem "blossen" Messen und Synchronisieren von Längen und Breiten, Signallaufzeiten und den Uhren, mit denen man sie mass, taucht komplizierte Philosophie auf. Die scheinbar rein theoretische Konstruktion der Raumzeit bei Einstein kriegt feste Fundamente in der Geschichte der Apparate und Normierungs-Institutionen.
Manchmal zitiert Galison etwas ausführlich komische Konferenz-Akten (Frankreich etwa wollte den globalen Nullmeridian "neutral" verlegen - also auf gar keinen Fall nach England - bastelte den eigenen aber so krumm auf die Karte, das Paris genau bei 20 Grad Ost zu liegen kam, weil das irgendwie besser aussah) ... manchmal hätte er physikhistorische Schmankerl jenseits des Schulstoffes besser in Fussnoten verlegt (wann genau las Einstein Poincarés Aufsatz über Lorentz' Kontraktion?) - und besonders hätten Laien-Lesern ein paar aktuelle Schlenker den Zugang erleichtert: über die taktisch verfälschten öffentlichen Karten der DDR etwa oder das in Kriegszeiten absichtlich ungenau funktionierenden GPS-Satelliten-Navigationssystem.
Aber manchmal staunt man auch einfach nur über Zeitgeschichte, sozusagen aus den Augen der Uhr betrachtet: wie 1894 ein Anarchist den Null-Meridian der Sternwarte von Greenwich bombardierte (daraus wurde Joseph Conrads Roman "Der Geheimagent") oder 1992 ein "Kommando Sarah Connor" (nach der Heldin aus "Terminator 2") einen GPS-Satelliten am Boden zerstörte.
WING
Peter Galison: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. S. Fischer, Frankfurt 2003, 382 S., 24,90 ISBN: 3100244303
| |