LIEBESLEBEN

Durch dick und dünn

Karen Duves Heldin hat nicht nur eine Eßstörung

Anne hat eigentlich nur eines im Auge: Was so auf Tellern liegt. Ess ich oder ess ich nicht? ist die Frage, die ihr Leben bestimmt. Die Antwort schwankt wie das Gewicht der in weiten Teilen des Romans noch recht zivil aussehenden jungen Frau, am Schluss bringt sie dann ganze hundertsiebzehn Kilogramm auf die Waage, dazu sind mindestens sechs Tafeln Schokolade, eine Tüte Chips und vier Käsebrötchen pro Fressanfall nötig. Wer jetzt keinen Freund hat, kriegt auch keinen mehr. Entsprechend nennt Duve ihren Roman: Dies ist kein Liebeslied, und doch ist die Liebe Schuld am desolaten Fressverhalten Annes, oder vielmehr das Fehlen der Liebe.
Wie üblich fangen die Probleme mit dem Elternhaus an, ihr Freund "Tellerauge" bringt es nicht und ebenso wenig die zahllosen unerfreulichen Gesellen, die ihm folgen. Nur ein Prinz ist darunter, von der Protagonistin hoffnungslos überschätzt, und das nur, weil er ihr als Einziger die richtige Kassette aufgenommen hat.
Blöderweise ist Peter Hemstedt nach London gezogen, und dahin begibt sich Dickmadam, nachdem sie sich ein Flugticket gekauft hat wie andere sich einen Strick kaufen. Verstrickt hat sich Anne vor allem in ihren alles beherrschenden Selbstzweifeln, das Ziel der Reise ist darum klar, sie will ihrem verfehlten Leben auf die Spur kommen. Hemstedt sei der Schlüssel, glaubt sie, zum Glück und zu einem schlanken Ich, das irgendwann irgendwo unter zig Tortenstücken verschütt ging.
Ein Pubertätsroman, könnte man denken, aber Annes Verirrungen sind nicht auf ein paar verpickelte Jahre beschränkt, und Karen Duve erzählt mehr als eine einfache Teenie-Geschichte. Ihre Anti-Heldin ist weder auf den Mund noch aufs Gehirn gefallen, ihre Sprüche sind hart und treffend, ihr Denken ist realistisch und selbstreflektiert, wenn auch ausgesprochen selbstquälerisch, und die Worte, mit denen sie sich beschreibt, sind so brutal, wie sie ihr Äußeres eben empfindet.
Wie sehr ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst die Beziehungen zu anderen Menschen in Mitleidenschaft ziehen kann, ist keine Neuheit, Duve beschreibt und ergründet, welche zunächst logisch scheinenden und dann aber doch in der Anwendung ganz und gar unsinnigen Gedanken sich im Kopf einer ess- und liebeskranken Person versammeln können. Die Autorin stellt keine flachen Ursache-Wirkung-Behauptungen auf, sondern weist auf verschiedene Persönlichkeits- und Umweltmerkmale hin, die in Annes Isolation und Selbstzerstörung münden. Duve hat Beobachtungsgabe und Humor, beide wendet sie an, und das keineswegs sparsam.
Julika Pohle
Karen Duve: Dies ist kein Liebeslied. Eichborn, Berlin 2002, 285 S., 19,90 Eu. ISBN: 3821806834