TRAUMA

Seltsame Rache

Hélène Duffaus »Schrei!« beschreibt das Leben einer vergewaltigten Frau

Der Debut-Roman von Hélène Duffau ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ihre namenlose Protagonistin lässt den Leser so nah an sich heran wie niemanden sonst. Sie geht kaum aus dem Haus, die Lebensmittel werden ihr geliefert, erst wenn der Bote ausser Sichtweite ist, holt sie die Tüten in die Wohnung.
Seitdem die junge Frau von mehreren Männer vergewaltigt wurde, ist sie nicht mehr sie selbst. Zynisch erzählt sie von ihrem gestörten Verhältnis zu Essen, Sex und fremden Menschen. Und protokolliert ihre absonderlichen Rachefeldzüge: sie steigt mit so vielen Männern wie möglich ins Bett ("Der Mann hat für mich nur eine Bedeutung. Er bringt mir, was er mir geraubt hat."). Nach dem Akt kratzt sie das getrocknete Sperma vom Laken, füllt es in kleine Glasphiolen und gibt es später ins Essen.
Richtig, Duffaus psychisch derangierte Hauptfigur verköstigt das Ejakulat ihrer One-Night-Stands, würzt es zuvor und schmeckt es ab wie eine Spargelcremesuppe. Das ist so krank, dass man als Leser fast lachen muss, wüsste man nicht, dass die Vergewaltigte eine derart tragische Existenz führt und das nicht überwundene Trauma sie zu solch skurril-perversen Ersatzhandlungen treibt.
Hélène Duffau, die in Frankreich bereits ihren zweiten Roman Combat veröffentlichte, hat ein eindringliches und faszinierendes Debut über ein Opfer geschrieben, das keins sein will.
Schnörkellos, mit klaren Formulierungen und erschreckender Präzision schreibt sie aus der Seele einer hoffnungslos zerstörten Frau heraus, der man den besten Psychiater der Welt wünscht. Bemerkenswert ist vor allem, dass die Autorin in ihrer Geschichte auf Psycho-Klischees (den Waschzwang mal ausgenommen) und Selbstbemitleidungen verzichtet. Wahrscheinlich geht der Inhalt der 32 kurzen Kapitel deshalb so unter die Haut.
Das Buch will gar nicht gefallen, was seine Faszination ausmacht. Nachdem man gut 100 Seiten lang die Welt aus den Augen einer vergewaltigten Frau gesehen hat, wird man im letzten Kapitel mit reichlich kryptischen Sätzen alleine gelassen ("Gemeinheit läßt das Aroma verfliegen. Grausamkeit läßt das Substrat sauer werden."), wohl auch deshalb, weil eine Seelen-Sezierung keinen angenehmen Schluss, geschweige denn ein Happy End haben kann.
Desweiteren nervt Duffau damit, dass sie die Sache mit der Ich-Erzählerin zu wörtlich nimmt. In fast jedem Satz tauchen ich, meine, mir, mich auf, in manchen Sätzen sogar mehrfach. Dass das als stilistisches Mittel zur Verdeutlichung der Ich-Bezogenheit gedacht ist, leuchtet ein, bleibt aber dennoch gewöhnungsbedürftig. Trotz dieser Unbequemlichkeiten hat man es hier mit einem lesenswerten, interessanten Erstlingsroman zu tun.
Michaela Sommer
Hélène Duffau: Schrei! Aus dem Französischen von Brigitte Große. Eichborn, Frankfurt/M. 2005, 113 S., 15,90. ISBN: 3821857412