JÄGER & SAMMLER
Unter Käuzen Hans Peter Duerr ärgert wieder die Linken Früher, in herrschaftsfreien Gesellschaften, kannten wir keine Scham: Die Jäger gingen nackig zur Arbeit, die Bauern bestellten unbekleidet ihren Acker, die Frauen liefen mit blanken Brüsten umher, und jede intime Verrichten - vom Pinkeln bis zum Vögeln - verlief in freundlicher Gemeinschaft und Offentheit. Erst die Zunahme repressiver Strukturen (auch "Zivilisation" genannt) brachte den Menschen so etwas wie "Scham" bei, ein Kultur-Konzept, das nur der Unterdrückung dient. Der fortlaufende Zivilisationsprozeß ist einer, der uns Scham anerzieht, das Bedecken der Genitalien ist kein instinktiver Reflex, sondern eine anerzogene Kulturleistung. Eine wahrhaft zivilisierte Gesellschaft, eine befreite Welt, wird alle Scham wieder ablegen, glücklich und tabulos werden Bruder und Schwester miteinander verkehren, und selbst der Haifisch wird sich, derart rundum befriedet, mit Algenfutter begnügen (so Herbert Marcuse laut Hans Peter Duerr). Das ist, seit den 70ern, in den entsprechenden Fachgebieten, die gängige Lehrmeinung. Ihr Gott ist der große Norbert Elias, ihr Luzifer Hans Peter Duerr. Der schreibt nämlich seit den späten 80ern an seinem vielbändigen Mythos vom Zivilisationsprozeß und hat eine abweichende Meinung, die er gerade mal wieder in seinem vierten Band Der erotische Leib vertritt und belegt. Nach Duerr, der in Bremen Ethnologie und Kulturgeschichte lehrt, kannten die frühesten menschlichen Gemeinschaften bereits das sexuelle Tabu, die Scham. Daß es verboten ist, die Genitalien des anderen Geschlechts zu betrachten, daß Brüste zu bedecken und Intimitäten heimlich ausgetauscht werden, ist, so Duerr, so alt wie die menschliche Kultur, da derlei Tabus die Partnerbindung fördern und die allgemeine (sexuelle) Verfügbarkeit des Individuums verbieten. Nur eine promiskuitive Gesellschaft wie die gegenwärtige westliche könne pausenlos mit öffentlichen, schamverletzenden Sexualangeboten locken. Weshalb, und diese Verbindung nehmen ihm seine Gegner besonders übel, die Gesellschaft auch immer brutaler werde. Wer sexuelle Tabus abbaut, reißt einen der wichtigsten Grenzzäune im mitmenschlichen Umgang ein; für Duerr sind die Greueltaten der US-Amerikaner in Vietnam und der Bosnien-Krieg Ausdruck dieser vermeintlichen Liberalisierung. Sowas ist für gestandene Linke natürlich ein gefundenes Fressen; für jemanden wie die Feministin Katharina Rutschky ist Duerr der fleischgewordene Gottseibeiuns. Daß Duerr für seine These mühsam Beleg um Beleg aus der Literatur, der Feldforschung und eigener Anschauung zusammenträgt, beeindruckt seine Gegner wenig: alles aus dem Zusammenhang gerissen! sagen sie. Daß "die Geschichte" auf einen idyllischen Endzustand hinausläuft, daß wir dereinst unschuldig wie die Kindlein in Gottes Garten spielten, bevor das böse Tabu über uns kam, ist eine eher katholisch als ethnologisch-soziologisch fundierte Vorstellung. Die Idee vom einstmals naiven Ur-Menschen, der keinen Unterschied kannte zwischen gemeinsam Essen und gemeinsam Koten, ist mindestens gewagt. Wohingegen Duerr in seinen inzwischen vier Bänden Material gesammelt hat, das auf eine gewisse Universalie hindeutet. Im vierten Band sammelt er hauptsächlich Belege dafür, daß die weibliche Brust in allen Kulturen eine erotische Bedeutung hatte und daß diverse Schamvorschriften überall vorhanden waren und sind. Für seine Belegsammlung geht er erschreckend furchtlos durch die Stätten der Geschichte, vom Nazi-KZ über Büstenhalter, vom ancien regime zu indianischen Stammeskulturen, überall sammelt er seine Belege. Duerrs These, die Partnerbildung mache die Tabus notwendig und eine Zweierkiste sei der stabilste Rahmen für jedwede gesellschaftliche Entwicklung, ist streitwürdig. Letztlich ist seine Idee aber viel weniger reaktionär, als seine Kritiker behaupten. Erich Sauer
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Hans Peter Duerr: Der erotische Leib. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß Band 4. Suhrkamp 1997, 670 S., mit zahlr. sw-Abb., 78,- DM |