FAMILIE

Leicht verschoben

Michael Greenberg erzählt vom Einbruch des Wahns in eine nicht ganz normale Familie

Das ist kein Roman, auch kein Ratgeber oder ein Erfahrungsbericht über die Psychiatrie: Michael Greenberg erzählt wirklich nur von den ersten Wochen, als seine 15-jährige Tochter Sally psychotisch wurde und für 24 Tage in eine Klinik kam.

Der Tag, an dem seine Tochter verrückt wurde, ist ein Tag, den Michael Greenberg, damals ein erfolgloser Schriftsteller, der sich mit journalistischen Aufträgen über Wasser hält, nicht einmal als Zeuge erlebt hat. Als die Polizei seine Tochter samt Freundin zu Hause abliefert, ist Greenberg gerade ausgegangen mit Freunden. Erst am nächsten Tag erlebt er die akute Psychose seiner Tochter, die ihn auch körperlich angreift und immer schneller immer unverständlicheres Zeug redet.

Dass Buchtitel Bücher verändern, weil sie Erwartungen schaffen , ist ein alter Hut, den wir hier trotzdem aufsetzen wollen. Der vollständige deutsche Titel lautet Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde Eine wahre Geschichte. Der vollständige US-Titel war "Hurry Down Sunshine. A Memoir", wobei das "Sunshine" ein alternativ angehauchtes Café ist, das im Mittelpunkt von Sallys Wahn steht. Im "Sunshine" sitzen Leute und warten auf Sally, die ihnen das Universum erklären muss.

Am Ende ihrer Therapie darf sie das Café vorsichtig und in Begleitung betreten, damit sich die Mystifizierung des Ortes aufhebt. Und die Zeile "A Memoir" erhebt einen ganz anderen Anspruch als die "wahre Geschichte".

Greenbergs Erinnerungen sind auch deshalb bewegend, weil sie augenscheinlich auf Effekt geschrieben wurden, als ein Text, der unterhalten und nicht einfach ein Abbild sein will. Es sind Erinnerungen eines Vaters, der Schriftsteller ist.

So stellt Greenberg gleich zu Anfang die Geschichte von James Joyce und dessen Tochter neben seine eigene Beziehung zu Sally. Auch Joyce machte sich Vorwürfe, Schuld am Wahn seiner Tochter zu sein, und als er sich an C.G. Jung um Rat wandte, analysierte der nicht die Tochter sondern Joyce selbst.

Am Ende der eher verwirrenden Psychiatrie-Erfahrung steht eine Ballett-Premiere, eine Choreografie, die Greenbergs Frau, eine Tänzerin, in den Monaten der Krise entworfen und einstudiert hat. Es geht dabei um Wahn.

Diese dramaturgischen "Zufälle" machen das Buch zu einer eher belletristischen Leseerfahrung. Greenberg hat eigentlich eine Novelle verfasst, in der seine Familie im Mittelpunkt steht, und zufällig ist in dieser Zeit auch seine Tochter verrückt geworden. Er beschreibt die Ängste, wenn man zum ersten Mal eine psychiatrische Station betritt, wie man lernt, dem Blick der anderen Patienten auszuweichen. Wie Pfleger und Ärzte unter der Routine ermüden, und dass es augenscheinlich keine andere als eine chemische Behandlung gegen Psychosen gibt, die leider nur die Ängste des Patienten dämpft. Psychosen und ihre Ursachen sind bis heute rätselhaft - damit da kein falscher Eindruck entsteht, betont Greenberg das bereits im Vorwort. In einem heroischen, in der Auswirkung aber lächerlichen und dennoch traurigen Selbstversuch nimmt Greenberg all die Pillen, mit denen seine Tochter dauerhaft leben muss. Und er erkennt die Welt kaum wieder. Daneben lässt er den Schilderungen seiner Tochter viel Raum, die von der Faszination erzählt, die jener Wahnschub in ihr auslöste, als sie meinte, von kristallklarer Wahrheit durchdrungen zu sein und auf einmal "alles klar" zu sein schien und sie nur noch ins Café Sunshine zu laufen brauchte, um der dort wartenden Menge alles zu erklären.

Erich Sauer
Michael Greenberg: Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde. Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann & Campe, Frankfurt 2009, 286 S., 19,95