QUERDENKER

Lob der Orthodoxie

Der "Father Brown"-Autor Chesterton als Essayist @zitat = Es hängt nicht sonderlich viel davon ab, ob jemand eine pürierte oder eine frische Tomate ißt; aber ob er eine frische Tomate mit püriertem Verstand ißt, davon hängt schon eine ganze Menge ab. @zitat = ("Über Sandalen und Schlichtheit")

Niemand konnte so schön im Unrecht sein wie Gilbert Keith Chesterton. Seine Kritik an den Ketzern und sein Lob der Orthodoxie sind einerseits drollige Wortspielerei (wieso wollen alle plötzlich "ketzerisch" sein, wenn das nur heißt, von der "Rechtgläubigkeit" abzuweichen?), andererseits eine fundamentale und vorweggenommene Kritik der Moderne. Alle interessiert uns heute, schreibt Chesterton, was einer von Pferdewetten hält, vom britischen Empire oder seiner Frau. Aber was er für ein Weltbild hat, scheint vollkommen egal zu sein. Weil es keine Ideale mehr gibt, keine Leidenschaft für Wahrheit, nur die kalte - wörtlich: Effizienz. Manchmal glaubt man, er beschreibt Guido Westerwelle oder Gerhard Schröder.
Erst einmal in Fahrt, kann Chesterton sich schön verrennen. Wenn er etwa Kipling vorwirft, er sei ein Kosmopolit und liebe England nicht, dann hat er ja recht, aber gerade diese Tatsache macht Kiplings Werke bis heute lesbar, wohingegen die imperiale patriotische Literatur jener Zeit kaum Spuren hinterlassen hat. Chesterton aber meint, nur die Liebe zu einer Idee (wie England) sei es wert, groß genannt zu werden. Chesteron lobt den Patriotismus und die Nation. Aber die Nation ist für ihn keine völkische Blutsgemeinschaft, sondern eine Idee. Welches "Blut" einer in den Adern hat und woher seine Vorfahren kamen, ist Chesterton wurscht. Nation ist, wenn aus fünf Menschen ein sechster wird, sagt er. Damit ist Nationalismus für Chesterton eine Tugend, weil ein Ideal geliebt wird, kein Land.
Chesterton möchte, daß wir uns wundern. Daß wir in Demut vor einem Veilchen niederknien. Nicht, weil wir schlicht im Geiste sind, sondern weil wir das Göttliche in der Welt erkennen sollen.
An Shaw mag er nicht, daß der keine Ideale kennt, nur Gerechtigkeit. An H.G. Wells kommt ihm der Verzicht auf "Seele" komisch vor. Und die wahre Herausforderung liegt nicht im Erkunden dunkler Kontinente, sondern in der Nachbarschaft: "Neger können wir lieben, weil sie schwarz, oder deutsche Sozialisten, weil sie beckmesserisch sind. Unseren Nachbarn aber müssen wir lieben, weil er da ist." Das ist für die Zeit (um 1905) drollig gedacht, wo England ein Weltreich aufgebaut hatte. Heute wirkt es etwas spießig.
Moral, so Chesterton, ist keine "gesellschaftliche Übereinkunft", sondern ein göttliches Prinzip. Tatsächlich benutzt er das alte, naive Argument: Wenn Gott uns nicht die Fähigkeit gegeben hätte, Licht zu sehen, bräuchten wir über Elektrizität nicht zu streiten.
Diese Mischung aus plattestem Gottesbeweis, luzider Deduktion und - ja doch: Geschmack haben diese Essays zu Klassikern werden lassen.
Alex Coutts
Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter Aus dem Englischen von Monika Noll, Ulrich Enderwitz. DIE ANDERE BIBLIOTHEK, Eichborn, Frankfurt 1998, 296 S., 49,90 DM