FACTION Der tote Forscher im Urwald Der brasilianische Roman »Neun Nächte« vermischt Fakten und Fiktion eines tragischen Todes Warum der junge amerikanische Ethnologe Buell Quain sich 1939 im brasilianischen Urwald umbrachte, weiß niemand. Er war gerade mal 27, ein erfolgreicher Feldforscher und hatte keine persönlichen und beruflichen Probleme. Es wird angenommen, dass er glaubte, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Aus diesem authentischen Fall macht der Brasilianer Bernardo Carvalho einen dieser seltsamen "faction"-Romane, also Geschichten, die irgendwie wahr aber größtenteils um erfundenes Material ergänzt wurden. Was dabei wahr und was ausgedacht ist, bleibt, wie bei allen Romanen dieser Gattung, im Dunkeln, weshalb sie unangreifbar und meistens todlangweilig sind. Auch in Neun Nächte, der Fiktionalisierung der Geschichte, fragt man sich am Ende, wozu der erzählerische Aufwand betrieben wurde. Die Hauptfigur, ein Journalist (wie Carvalho), ergänzt die umständlich erzählte Geschichte Quains um die eigene Biographie, macht aus der Suche nach den Ursachen von Quains Tod einen Roman, in dessen Verlauf der Autor sich selbst unter jene Indianer begibt, in deren Mitte Quain damals Selbstmord beging. Das ist manchmal drollig, immer gut erzählt, und selten spannend, weil die Annäherung an einen Toten blass bleibt und kein Ergebnis zeitigt: es gibt einfach keine Spannungsmomente (vor allem dann nicht, wenn man die Ethnologie und ihre Diskussionen jener Jahre so sehr ausklammert, wie Carvalho das tut). Ein erfundener Briefeschreiber raunt zwischen den Kapiteln versteckte Wahrheiten ins Buch, jede Menge Korrespondenz Quains wird zitiert (manchmal mehrfach, aber dafür wissen wir nicht: ist der Brief jetzt echt oder von Carvalho ausgedacht?), sexuelle Orientierungen werden geprüft, eine unglückliche Liebe kommt in's Spiel - es sieht aus wie ein großer Kolportage-Roman, den Carvalho sich nicht zu schreiben traut. Formal ist die Geschichte klug gebaut, sprachlich ist das Nichts, das Carvalho verbreitet, überragend gestaltet. Die Übersetzerin bekam für ihre Arbeit den "Förderpreis der Stadt Hamburg". Wer schon immer der Meinung war, das die Form wichtiger sei als der Inhalt, kann sich hier auf hohem Niveau langweilen. Victor Lachner
Bernardo Carvalho: Neun Nächte. Aus dem Brasilianischen von Karin von Schweder-Schreiner. Luchterhand, München 2006, 207 S., 19,95
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