UNTERWEGS

Geträumte Stadt

Edward Careys Roman über Schwestern, Reisen und die inneren Werte

Es waren einmal zwei ganz und gar verschiedene Zwillingsschwestern. Zwar glichen sie einander äußerlich wie eine Münze der anderen, innerlich waren sie jedoch so verschieden wie die zwei Seiten der Medaille. Alva strebte in die Welt hinaus, träumte davon, ferne Kontinente zu entdecken und ließ sich auf dem Höhepunkt dieses Wahns die Weltkarte kreuz und quer auf ihren Körper tätowieren.
Irva graute vor der Welt. Ihr genügte die Stadt, in der sie lebte, später reichten die Straße, das Haus, ihr Zimmer. Weil die Schwestern aber so untrennbar miteinander verbunden waren, dass sie einen Kompromiss zwischen Außen und Innen finden mussten, entwickelten Alva und Irva ein extravagantes Hobby: Alva durchstreift die Straßen der Stadt, vermisst, beobachtet, entdeckt, während Irva auf dem Dachboden kauert und alle Gebäude, Kirchen, Türme, Mauern und Straßen, die die Schwester ihr beschreibt, aus Plastilin nachbildet.
So wächst und gedeiht eine wachsweiche, geknetete Miniaturausgabe der Stadt. Die Stadt, auf deren Beschreibung Edward Carey ebensoviel Sorgfalt verwendet, wie seine Ich-Erzählerin Alva, soviel Sorgfalt, als sei es der Leser, der sie im Geiste nachbilden solle, diese Stadt heißt Entralla. Sie liegt irgendwo in einem ungenannten Land, doch wer sie besucht, ist herzlich willkommen. Vor allem dann, wenn er ein Exemplar des Romans Alva & Irva bei sich trägt, der gleichzeitig ein akribischer Reiseführer durch Entralla ist.
Mit dem Roman in der Hand, so versichert Carey, bekäme man Preiserlass in so manchem Lokal der Stadt, und zahlreiche Sehenswürdigkeiten erinnerten an die Schwestern Alva und Irva.
Deren Plastilin-Modell nämlich rettete Entralla einst vor dem Untergang, brachte die Stadt zu neuer Blüte, und heute steht eine Skulptur der Schwestern dort zur Besichtigung, Alva blickt in den fernen Himmel, Irvas Augen senken sich auf die winzige Stadt zu ihren Füßen.
Der Roman des Engländers Edward Carey ist meisterhaft erzählt, komponiert und erfunden. Der Rückblick auf die Geschichte der Schwestern mischt sich mit launigen Reiseführer-Elementen, die den Segen, den Alva und Irva über die Stadt brachten, in Kontrast setzen zu deren unglücklichen Leben. Von Geburt an von ihrem Großvater für den Postdienst fremdbestimmt, gelingt es beiden Schwestern nicht aus ihrer persönlichen Gefangenschaft auszubrechen, die für Alva Entralla, für Irva aber Alva heißt. Wie Carey die Wesensart der Schwestern beschreibt, ist großartig, seine Charakteristik ist in sich stimmig und bei aller Fremdartigkeit jederzeit nachvollziehbar. Der Autor wirft mit Symbolen nur so um sich, doch keines von ihnen wirkt konstruiert.
Und wenn wir am Schluss lernen, dass man sich selbst immer mitnehmen muss, wohin man auch geht, dass es ganz egal ist, ob man flieht oder bleibt, dann haben wir drolligerweise den Eindruck, wirklich etwas Neues gelernt zu haben. Denn die alte Wahrheit wurde auf originelle, überaus lesenswerte Weise verkauft. Besuchen Sie also Entralla. Entdecken Sie die Reize dieser Stadt.
Und statten Sie vor allem dem Standbild der Zwillingsschwestern einen Besuch ab - das ist touristisches Pflichtprogramm.
Julika Pohle
Edward Carey: Alva & Irva. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2003, 20,- ISBN: 3935890168