GESCHICHTE

Massaker der Erinnerung

Staatsverbrechen in Sizilien

Im Juli 1875 beschließt der italienische Senat, einen neunköpfigen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der die Verhältnisse in Sizilien beleuchten soll. Wie viele andere Kommissionen fördert auch dieser Ausschuß nichts zu Tage ("Mafia? - nie gehört"). Anhand der Protokolle der Untersuchung fragt sich der Autor und Theaterregisseur Andrea Camilleri: Warum eigentlich nicht? Und entdeckt die Spur einer "bolla di componenda", eines kirchlich verbreiteten "Ablasses", der intern regelt, wie "Sünden" (Diebstahl, Körperverletzung, Erpessung etc.) zu ahnden sind - nämlich gegen Geld. Es ist auffällig, wie der Ausschuß diese "Bulle" ignoriert, wie er das System der kriminellen Absprache einfach nicht zur Kenntnis nimmt.
In den Anlagen des Abschlußberichtes fehlt denn auch die Abschrift der "bolla", obwohl sie nachweislich vorlag. Camilleri, der immer wieder betont, dass er kein Historiker, sondern Regisseur sei, baut um diesen Ausschußbericht herum einen witzigen, klugen Essay über die Verhältnisse in Sizilien, das System des Gebens und Nehmens, und greift immer wieder auf sein Talent als Regisseur und Autor zurück: manche Protokolle, sagt er, lesen sich, als seien sie für die Bühne geschrieben worden, keinesfalls als Abschrift eines Dialogs.
In einem zweiten, älteren Aufsatz untersucht Camilleri ein Massaker, das sich während der Bourbonenaufstände in einem Gefängnisturm abspielte. Auch hier hilft ihm vorwiegend seine Phantasie, die tatsächlichen Ereignisse zu rekonstruieren, um das zweite Massaker, das "Massaker des Vergessens" zu verhindern.
Ähnlich wie sein Freund und Kollege Leonardo Sciascia verbindet Camilleri Fiktionales mit Historischem, raisonniert über Verhältnisse und Erzpriester, versucht eine soziale und charakterliche Erklärung für das Mafia-Phänomen zu finden und vermischt gekonnt Archiviertes mit Anekdotischem.
Der Piper Verlag (der darunter leidet, nicht die Rechte an den erfolgreichen Krimis Camilleris zu besitzen und nur ein Teil seines "Restwerk" verwerten darf) hat diese Aufsätze unter dem hochgradig schwachsinnigen Titel Eine Frage der Ehre in ein Buch gepackt und auf die Rückseite geschrieben: "Camilleri nimmt einmal mehr seine Landsleute unter die Lupe und zeichnet ein wunderbar skurriles Porträt einer Insel, die ihre ganz eigenen Gesetze kennt." Weiter heißt es im Klappentext: "Mit unwiderstehlichem Sprachwitz präsentiert der große Sizilianische Autor dem Leser ein Feuerwerk an bunten Gestalten und deftigen Situationen". Der fehlende Hinweis in Titel und Werbetext auf zwei non-fiktionale Aufsätze wäre noch der geringste Einwand gegen diesen geistigen Dünnpfiff, der am Inhalt dieses Buches absichtsvoll vorbeigeht.
Victor Lachner
Andrea Camilleri: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Piper, München 2002, 191 S., 15,90 EU