SIZILIEN

Schwefel und Wahnsinn

Drei neue Bücher des Ironikers Andrea Camilleri

Jetzt, wo sein Kommissar Montalbano sogar als (schlechter) TV-Krimi über uns gekommen ist, muß man den Sizilianer Andrea Camilleri als Autor ein bißchen zurechtrücken. Denn er ist am allerwenigsten ein Krimi-Autor. Vorwiegend ist er Sizilianer. Und wie Leonardo Sciascia (auch so ein Sizilianer, der hier nur als Krimi-Schriftsteller bekannt ist) gräbt Camilleri gerne in der sizilianischen Geschichte herum. Zum Beispiel in den Romanen um die (fiktive) Stadt Vigata, in der sein Kommissar Montalbano ermittelt, der sich Camilleri aber auch historisch nähert: Das launische Eiland, gerade erschienen, spielt vor über 100 Jahren.
In der von grimmigem Humor durchtränkten Novelle wartet die ganze Stadt darauf, dass der widerliche Schwefelhändler Barbabianca endlich pleite geht. Barbabianca hat ein krummes Geschäft gemacht, hat Schwefel verkauft, der ihm nicht gehört. Jetzt kommt ein Dampfer, in wenigen Stunden, der den Schwefel abholen will, den es nicht mehr gibt. Die Novelle spielt in den wenigen Stunden, die bis zur Ankunft bleiben. Eine gehetzte Freude macht sich breit, fast jeder in der Stadt hat einen Grund, Barbabianca zu hassen, der jede Schandtat begangen hat, die man sich denken kann.
Camilleri hat diese Novelle sehr geschickt gebaut: Während sich auf der direkten Erzählebene die Zeit zunehmend verkürzt und verdichtet, schweift der Autor immer wieder ab, um die Geschichte Barbabiancas und auch die Siziliens und des Schwefelabbaus zu erzählen, einer Plackerei sondergleichen besonders für die Hafenarbeiter, die das Zeug verladen mußten. Das Ende der Geschichte ist luzide - und sehr sizilianisch; denn nichts wird sich ändern, es ist alles nur ein bißchen schlimmer geworden.
Bei Wagenbach ist soeben Camilleris Roman-Biografie Der vertauschte Sohn erschienen: Luigi Pirandello, Lyriker, Dramatiker, Autor und Sizilianer, dessen Vater im Schwefelgeschäft tätig war, wird hier in einer seltsamen Zerrissenheit präsentiert. Nicht, weil die Idee der gestörten Identität Pirandellos neu wäre (der ist auch schon Sciascia nachgegangen), sondern weil Camilleri sie beinahe zwanghaft um die Geschichte vom "vertauschten Sohn" herum anordnet. Und man wird das Gefühl nicht los, dass man schon arg an den Fakten biegen muß, um dieses Problem zu solch einem runden Ende zu bringen, wie Camilleri das tut. Der junge Pirandello wird als einer präsentiert, der sich in die falsche Familie hineingeboren fühlt. Ergänzt um einen etwas undurchsichtigen Vater-Konflikt, kommt Camilleri immer wieder auf dieses Motiv zurück. Ob Pirandellos seltsam verkorkste Lieben in der Jugend, seine Vernunft-Ehe mit einer im Wahnsinn endenden Frau ("Der Wahnsinn meiner Frau bin ich"), seine obsessive Tochter-Liebe - Camilleri sucht immer Belege für seine "vertauschter Sohn"-These.
So enervierend das manchmal ist: Der vertauschte Sohn ist trotzdem ein großartiges Buch. Nicht nur, weil Camilleri seinem Objekt Pirandello bei aller Verehrung manchmal rüde übers Maul fährt (Pirandellos Briefe sind bisweilen arg durch Pathos und Verstellung gezeichnet), vor allem beschreibt er sehr anschaulich das Leben in Sizilien um die Jahrhundertwende, Sitten und Gebräuche (der Einschub über "sizilianische Freundschaft" ist wundervoll), er verliert sein Objekt nicht aus den Augen und schildert dennoch ausfühgrlich politische und ökonomische Umstände. Und wohl nur ein Schriftsteller kann als Biograph so auffällig jeden Zusammenhang ignorieren: Zwar zitiert Camilleri ausführlich aus Pirandellos Geschichten, um autobiografissche Hintergründe aufzudecken (und wird da erstaunlich fündig), aber wann und warum Pirandello seine Form des Ausdrucks wählte, darüber spekuliert Camilleri nicht einmal. Über Sechs Personen suchen einen Autor sagt er gerademal, dass Pirandello es wie in Trance niedergeschrieben habe und dass der offene Bühnenraum bei der Uraufführung auf das Publikum verstörend wirkte. Lieber setzt Camilleri auf drastische Szenen und beschreibt, wie Pirandello bäuchlings auf dem Bett liegt, neben seiner vom Wahnsinn paralysierten Frau, und seine Novellen schreibt.
Von Pirandello führt der Weg direkt wieder zu Vigata und Montalbano: In dem zuletzt erschienenen Krimi Das Spiel des Patriarchen liegt ein toter junger Mann auf der Straße und ein altes Ehepaar ist verschwunden. Gleichzeitig möchte der gichtgebeugte Alt-Mafioso Vigatas den Kommissar für seine Zwecke einspannen. Alles ist sehr sizilianisch, rüde, geheimnisvoll, der Kommissar bangt, dass sein Stellvertreter Mimi um Versetzung bitten wird (wegen einer Frau, die er kennengelernt hat), und wir sind mit Freude schon durchs halbe Buch gewandert und haben fast nix kapiert. Der Kommissar auch nicht, was ihn ärgert. Deshalb legt er sich unter einen Olivenbaum und denkt nach. "Er sah das Astwerk in seiner Gesamtheit, wie er es vorher, als er auf dem Baum saß, nicht hatte sehen können. Ein Satz kam ihm in den Sinn: 'Da ist ein großer sarazenischer Olivenbaum ...: Mit dem habe ich alles gelöst.' Wer hatte das gesagt? Und was hatte der Baum gelöst?" - die Sätze hat Pirandello zu seinem Sohn gesagt, kurz vor seinem Tod, und sie bezogen sich auf das letzte, unvollendete Werk Die Riesen vom Berge.
Es ist mehr als elegant, dass Camilleri diesen Krimi letztlich durch ein Manuskript löst, eines, das von Anfang an der Polizei vorlag, aber keiner hatte Zeit und Lust, es zu lesen. Als der Kommissar es gelesen hat, kotzt er, wie er noch nie in seinem Leben gekotzt hat. Und dann geht er los und verhaftet den Mörder.
Victor Lachner
Andrea Camilleri: Das launische Eiland Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Piper Original Nr. 7020, München 2001, 155 S., 22,- DM
Andrea Camilleri: Der vertauschte Sohn Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Wagenbach, Berlin 2001, 302 S., 44,- DM
Andrea Camilleri: Das Spiel des Patriarchen. Commissario Montalbano lernt das Staunen Aus dem Italienischen von Christiane v. Bechtolsheim. editionLübbe, Bergisch-Gladbach 2001, 315 S., 36,- DM