ALTE MANUSKRIPTE

Verlorenes Paradies

Nils Brunse schreibt einen fein versponnenen Roman über »Die erstaunlichen Gerätschaften des Herrn Orffyreus«

Der erste Satz ist knapp und unspektakulär: "Heute ist ein freundlicher Tag." Doch schon der nächsten Absatz überrascht: "Draußen regnet es" lässt Nils Brunse seinen Erzähler Robert Zahme notieren. Dänen wie Brunse und sein Held, ein Germanistik-Professor in Frührente, halten bedeckten Himmel mit Niederschlag offenbar nicht notwendigerweise für trist, freuen sich vielmehr am zufriedenen Grün des satten Gartens im weichen Licht. Und schon bald gehen die sanften Verstörungen weiter.
Der Gelehrte leidet an Platzangst und kann sein Haus nicht mehr verlassen. In der Welt kriegt er nur Panikattacken, geborgen zu Hause will er nun endlich ein Manuskript ins Reine tippen, das eine frühere Lieblings-Studentin ihm hinterlassen hat. Dabei taucht er allmählich immer tiefer ein in ein seltsames Abenteuer.
Das Manuskript ist die Abschrift eines Reiseberichts aus dem 18. Jahrhundert und handelt von der Stadt Ramoth-Bezer, einem alttestamentarisch benannten vergessen Flecken im Mecklenburgischen. Dorthin zogen damals Leute, die mit der Gesellschaft nicht recht klar kamen. Unter weisen Männern und vergewaltigten Dienstmägden, am Adel leidenden Bauern und geflohenen Sträflingen verbreitet sich die Kunde von einem modernen, egalitären Paradies.
Auf keiner Karte ist der Ort verzeichnet, noch nie ist jemand von dort zurückgekommen. Nur ein deutscher Freiherr, der Wunderliches zu berichten weiß. In Ramoth-Bezer herrscht die Aufklärung, man macht sich seine Gesetze selbst, ohne Ansehen von Stand und Rang, und man bedient sich erstaunlicher Geräte, die scheinbar Energie aus dem Nichts erzeugen.
Je tiefer der einsame Gelehrte in die lückenhaften Notizen seiner Studentin vordringt, desto mehr erfahren wir auch über ihn, über seine vorsichtige Liebesbeziehung zu ihr, und über ihren plötzlichen Tod. War es ein Unfall? Wollte jemand eine Spur zu der geheimen Stadt verwischen?
Der Roman über ein verschollenes Utopia und die allmähliche Erweckung des selbst ziemlich verschollenen Bearbeiters verschränken sich. Taucht im Manuskript etwa ein Geheimnis auf, versucht es der Bearbeiter in seiner Bibliothek zu lösen. Gab es den Herrn Orffyreus wirklich, der das Paradies mit seinen Perpetuum Mobiles betrieb? Es scheint fast so.
Andererseits kommentiert der möglicherweise historische Text auch das Leben des Gegenwärtigen. Und kritisiert dazu in einem fernen Spiegel die Machbarkeits-Phantasien der Moderne.
Nils Brunses Roman zeichnet aus, dass er sich nach der finalen Anagramm-Auflösung des Stadt-Namens nicht verflüchtigt. Die Liebesgeschichte bleibt, der Thriller um ein geheimes Buch, die Vision einer Gegenwelt - und noch dazu das komplizierte deutsch-dänische Verhältnis und der Autor selbst. Immerhin schreibt Nils Brunse sonst Krimis und Reiseberichte und wurde als Übersetzer deutscher Literatur ins Dänische mehrfach ausgezeichnet. "Wieso sollte ich mich", schreibt sein Robert Zahme am Ende des Buches, das im Original Ramoth-Bezer heißt, "aus der Geschichte schneiden, wenn ich doch ein Teil davon geworden bin?".
WING
Nils Brunse: Die erstaunlichen Gerätschaften des Herrn Orffyreus. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Luchterhand, München 2007, 320 S., 9,00