ERINNERUNGEN
Zu viele Stimmen Lilly Brett bereist die Vergangenheit ihres Vaters Als Ruth Rothwax zum letztenmal mit einer Gruppe von Deutschen zu tun gehabt hatte, hätte sie ihnen am liebsten die Augen ausgestochen." Wenn nur dieser erste Satz nicht wäre. Man hätte Lilly Bretts dickes Buch nach der ersten Seite weggelegt, auf der sich "nichts dort befand, wo man es erwartet hätte" - einschließlich der Aufzüge und des ganzen Hotels. Alles "befindet sich" irgendwie unbeholfen in Polen - und manches wirkt unfreiwillig komisch ("jeder Gast sah aus, als habe er eine Mütze auf") als habe die Erzählerin es selbst in der halbvergessenen Sprache ihrer Kindheit geschrieben. Denn Ruth Rothwax ist Lilly Brett. Beide sind eine kurz nach dem Krieg in Deutschland geborene Tochter polnischer Juden, beider Vater lebt hochbetagt in Australien, beider Job ist das Schreiben in New York, und beide reisen zum wiederholten Male zurück in die Vergangenheit. Und darüber hinaus. "Ich glaube sie können mich hören" sagt eine Stimme, während Ruth durch Warschau joggt und vom KZ und New York und ihren Jahren in Melbourne dazwischen erzählt. Die Stimme gehört einem Deutschen, wie sich herausstellt, Rudolf Höss - und wenn ein Deutscher sich das hätte einfallen, würden wir ihm am liebsten die Augen ausstechen. Die zweite Stimme ist Max, Ruths Büroleiterin, die ihr mit Alltagssorgen Bodenhaftung geben soll. Und die dritte ist Lilly selbst, die Feuilleton-Frau, die ihrer Erzähl-Figur Bonmots einfallen lässt, auf die die nie gekommen wäre. Da erfahren wir etwa, "Ärzte waren der größte Anteil jedweder Berufsgruppe, der in die Nationalsozialistische Partei eingetreten war" (kein Deutsch, aber man ahnt, was da stehen soll) - dann werden Quellen zitiert, nach denen das mechanistische Denken der Juden die Kunst der Seele beraubt habe - und dann dürfen wir uns eine Gruppe deutscher Ärzte vorstellen, die Warmherzigkeit verströmt, nachdem sie mechanistische Konkurrenz ausgemerzt hat. Nur sehr selten gelingt die Mischung aus Erinnerung, Essay und Erzählung; fast nie wird die Konstruktion scharf (Höss im "Himmelslager 2" beim Sensibilitätstraining), nur manchmal wird die reine Reportage klar: bei einer Sightseeing Tour durch Auschwitz etwa - oder durch Kazimierz, wo Steven Spielberg Schindlers Liste drehte. Spätestens dann aber ruiniert die Übersetzung wieder alles: in Birkenau engagieren Ruth und ihr Vater einen Führer, reden ihn als Führer an, und merken nicht, dass einem Australier zu einem Guide natürlich gar nichts mehr einfällt. Und dann quasselt wieder Ruth Lilly dazwischen. Während der alte Vater vor dem jungen Reiseführer steht, während dieser uns an den Film erinnert und jener sich an das eigene Erleben - wäre "Ruth ihm am liebsten ins Wort gefallen. Mit einer etwas anderen Wortwahl sowohl Spielbergs Film anzusprechen als auch das, was den Krakauer Juden widerfahren war." Genau, mit etwas anderer Wortwahl. WING
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Lilly Brett: Zu viele Männner Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Deuticke, Wien/Frankfurt 2001, 655 S. |