KINO
Moral und Scheckheft
Peter Biskind erzählt die Geschichte des Independent-Kinos der 90er
Es beginnt 1989 mit Sex, Lies and Videotapes von Steven Soderbergh, und es endet 2004 mit Michael Moores Fahrenheit 9/11: Zwischen diese Eckdaten packt der US-Filmjournalist Peter Biskind (der 2000 bereits das amüsante Buch Easy Riders, Raging Bulls über New Hollywood schrieb) seine Geschichte des Independent Films, also jener Filme, die mit wenig Geld jenseits der großen Hollywood Studios entstanden.
Die Geschichte der "Indies", anfangs eher altbacken gehätschelt und gepflegt von Robert Redfords Sundance Institute, später raketengleich in den Himmel geschossen von Miramax, ist die alte Geschichte von Integrität und Profit. Als die Beteiligten merkten, wie viel Geld damit zu verdienen war, änderte sich mit der Produktionsweise auch der Inhalt. Aus Pi wurde Der englische Patient, aus Clerks die Gangs of New York.
New Kids on the Block
Miramax, geleitet von Harvey und Bob Weinstein, zwei Ex-Rockpromotern, änderte zu Beginn der 90er die Regeln, als Indie-Filme erstmals aggressiv und sehr professionell promotet wurden.
Ursprünglich als reiner Verleih geplant, stieg Miramax Mitte der 90er groß ins Produzentengeschäft ein (Pulp Fiction war ihr größter Hit) und besorgte sich Kapital von Disney. In ihrer Hoch-Zeit brachten die Weinstein-Brüder pro Jahr mehr Filme auf den Markt als die großen Studios (und mehr als alle anderen Independent-Verleiher zusammen).
Was als Klitsche begann, die Filme wie Clerks herausbrachte (und damit Regisseure wie Kevin Smith groß machte), wurde zum "kleinen Studio". Während anfangs ein Indie-Film für 10 Millionen Dollar zu produzieren war, brauchte es am Ende 80 bis 100 Millionen Dollar, Projekte wie Cold Mountain oder Gangs of New York schlugen die 100 Millionen-Marke locker. Als Abteilung von Disney hatte Miramax da längst seine Unabhängigkeit verloren. Als der Anti-Bush-Film Fahrenheit 9/11 auf Anweisung von Disney nicht herausgebracht werden durfte (und an den aufsteigenden kanadischen Verleih Lions Gate verkauft werden musste), kam es zum Knall. Seit 2005 ist Miramax nur noch ein Disney-Label, ohne die Weinsteins, die wieder neu anfangen dürfen und ihr ganzes Filmarchiv Disney überlassen mussten.
Harvey Scissorhands
Mit Haufenweise Anekdoten, Zitaten und Interviews gespickt, ist Biskinds Buch eher eine Wirtschaftsgeschichte als eine Chronik des Independent-Films. Es feiert den freien Geist und die Fantasie der Filmemacher und Schauspieler, die oft beinahe umsonst für Projekte arbeiteten, mit denen die Weinsteins reich wurden (wie bei Der englische Patient geschehen), aber ganz besonders interessiert sich Biskind für Harvey Weinstein, den legendären kreativen Kopf von Miramax.
"Harvey Scissorhands" (so genannt wegen seiner Vorliebe, in Filmen seiner Regisseure herumzuschneiden) steht im Mittelpunkt des Buches: Harvey schreit, schimpft, beschimpft ("Du Wichser, du Arschloch, du Fotze, du tust, was ich dir sage, denn ich bin reich und du bist nur ..."- wasauchimmer), Harvey prügelt sich öffentlich und bedroht Mitarbeiter und Konkurrenten. Ein Großteil der von Biskind Zitierten hält Harvey zweifellos für ein Riesenarschloch. Und ein Teil von ihnen liebt ihn trotzdem, weil er was von Filmen versteht und für einen Film kämpfen konnte, und weil seine Vorstellungen, wie man einen Film schneidet, nicht dumm waren.
Trotzdem: Harvey Weinstein hat unter Mitarbeitern, Regisseuren, Produzenten und Agenten eine Heerschar von Feinden, die nie wieder mit ihm arbeiten würden, auch weil seine Abrechnungen oft nicht korrekt erschienen.
Amüsiert verfolgt man die Auftritte dieser Naturgewalt ("Ich wurde auf die Erde gesandt, um mit Filmemachern zu ringen, ihnen ihre Filme zu entreissen und sie besser zu machen"). Und erstaunt liest man die Aussagen einer Produzentin, die bei einer eher klassischen Film-Firma schlechte Erfahrung machte: "Ich wünschte, ich hätte den Film mit Miramax gemacht. Ich habe gelernt, dass ein Arschloch, dem Filme etwas bedeuten, besser ist als ein Arschloch, den sie einen Dreck interessieren."
Nachdem Miramax nicht mehr existiert, hält vor allem Steven Soderbergh die Fahne hoch, jener Mann, der mit Sex, Lies and Videotapes den Hype um die Indie-Filme auslöste. Mit seiner Produktionsfirma fördert er heute die Filme und Regisseure, um die sich Miramax einst gekümmert hat. Die Studios haben ihre entsprechenden Abteilungen und Produktionsgesellschaften inzwischen verkauft, eingeschmolzen oder auf unbedeutende Größe reduziert. Aber nicht nur Soderbergh, auch Kevin Smith, Quentin Tarantino, Bryan Singer oder zuletzt Chris Nolan haben bewiesen, dass ehemalige Independent-Regisseure inzwischen ganz hervorragende Studio-Filme drehen.
Nebenbei
Es kommt bei Biskind nicht vor, aber: was die Produktionsweise betrifft (kleine Projekte werden von kleinen Teams betreut), die Stellung des Regisseurs, die karge Budgetierung und das Beschränken auf das Wesentliche, erwähnt Biskind den einzig wahren Independent-Filmer mit keinem Wort: Clint Eastwood (mit seiner Produktionsgesellschaft Malpaso) ist das Musterbild eines unabhängigen Filmemachers, der nie den Verlockungen der großen Studios erlag. Es geht auch anders, aber so geht es auch.
Thomas Friedrich
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