KINDHEIT

Mit Hunger gedopt

Mit der »Biographie des Hungers« setzt Amélie Nothomb den großen Roman über sich selbst fort

Es beginnt mit der Mitteilung, dass es auf der Insel Vanuata keinen Hunger gäbe, weil die Natur dort einen derartigen Überfluss an Nahrung bereithalte, dass die Bewohner wie in Notwehr ununterbrochen zum Essen animiert werden und daher nie hungrig seien.

Nicht nur die Menschen, auch die Kunst der Insel Vanuata machten einen erschlafften Eindruck, so Amélie Nothomb in ihrer fortgesetzten Autobiographie, in der sich Erfundenes und Erlebtes offensichtlich ständig abwechseln.

Weil ihr belgischer Papa Diplomat in Kobe ist, erlebt Nothomb die ersten Jahre ihres Lebens in Japan. Weil sie in der Metaphysik der Röhren darüber aber schon hinreichend und hinreissend geschrieben hat, verlässt das Buch bald Japan und folgt den Einsatzorten Papas: China zur Zeit der Viererbande, New York zur Zeit von Gerald Ford, Bangladesh zu Zeiten der Demokratie: "Wir bereisten jede Provinz, doch nie gab es etwas anderes zu sehen als diese wunderbaren Menschen; leider war die Hälfte von ihnen ständig am Sterben. Sterben war die Hauptbeschäftigung der Menschen von Bangladesh."

Anekdotisch und aus der egoistischen Perspektive des kleinen Mädchens sieht die kleine Nothomb ihr angeborenes Genie mit zunehmendem Alter verschwinden. Älter werden heisst, den Status des Göttlichen zu verlieren (auch dieser Gedanke hatte schon in der Metaphysik der Röhren gestanden). Getrieben von einem durchaus buchstäblichen Hunger (vor allem auf Süßigkeiten, Alkohol und Wasser) werden die Entdeckungen der Welt zur Schau gestellt: In New York kann man auf dem 44. Stockwerk vom Schwimmingpool aus den Sonnenuntergang sehen, in Peking ist es verboten, das Ausländerviertel zu verlassen, in Bangladesh gibt es auf dem Markt einen Fliegenstand: Wenn man in die Hände klatscht, erheben sich Tausende von Fliegen und geben das von ihnen bedeckte Fleisch frei.

Über all dem steht der Gedanke des Hungers. Und wie so oft bei Amélie Nothomb stehen da Banales und Witziges nebeneinander: "Champion im Magenknurren ist China. Seine Vergangenheit ist eine ununterbrochene Folge von Hungersnöten und Massensterben. Die erste Frage eines Chinesen an einen anderen lautet stets: 'Hast du schon gegessen?' Gibt es eine brillantere, ideenreichere Kultur? Die Chinesen haben alles erfunden, alles erdacht, alles verstanden, alles gewagt. Aber sie haben getrickst, sie waren gedopt - sie waren hungrig."

Als sie mit 17 nach Belgien kommt, bekennt sie, dass sie von allen Ländern dieses am wenigsten verstanden habe.

Mit Anfang 20 und nach einer schweren Anorexie ist sie wieder in Japan. Auch darüber hat sie bereits (vor 9 Jahren) einen Roman verfasst (Mit Staunen und Zittern). Ihm fehlte der kindliche Tonfall, der die Biographie des Hungers zu einem vergnüglichen und klugen Buch macht.

Thomas Friedrich
Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2009, 207 S., 18,90